Anatomie Titus. Fall of Rome

HEINER MÜLLER. WERKSTATT FALL OF ROME
für junge Regisseure, Schauspieler der Freien Kammerspiele Magdeburg und Schauspiel-, Bühnenbild- und Dramaturgiestudenten

28. Juni bis 6. Juli 2003
an den freienkammerspielen Magdeburg

in Zusammenarbeit mit den freienkammerspielen Magdeburg und mit Unterstützung der StiftungKulturfonds


Regie
Sascha Hawemann, Lukas Langhoff, Katka Schroth, Nora Somaini

Bühne
Karla Fehlenberg, Lappiyul, Claudia Stolle, Christian Müller

Vorträge
Günther Heeg, Thomas Heise, Matthias Langhoff, Hans-Thies Lehmann, Mikhail Ryklin, Jochen Schmidt, Wolfgang Storch


Studenten
der Fakultät Darstellende Kunst an der UdK
der Bühnenbildklasse an der Kunstakademie Düsseldorf
des Instituts für Theater-, Film- und Medienwissenschaften
an der Goethe-Universität Frankfurt a.M.
des Instituts für Theaterwissenschaften an der Universität Leipzig
der Johannes Gutenberg Universität Mainz


Konzept und Gesamtleitung
Klaudia Ruschkowski

Projektleitung freiekammerspiele Magdeburg
Ute Scharfenberg

Produktionsleitung
Enrico Stolzenburg



„Heiner Müller. Werkstatt Fall of Rome“ ist die zweite Werkstatt der Internationalen Heiner Müller Gesellschaft überschrieben, die, unterstützt von der StiftungKulturfonds, vom 28. Juni bis zum 6. Juli 2003 an den freienkammerspielen Magdeburg stattfand. Neben Workshops mit Schauspiel-, Bühnenbild- und Dramaturgiestudenten und Schauspielern der freienkammerspiele zu „Anatomie Titus Fall of Rome Ein Shakespearekommentar“ sprachen Guenther Heeg, Thomas Heise, Matthias Langhoff, Hans-Thies Lehmann, Mikhail Ryklin und Wolfgang Storch zu verschiedenen Aspekten des Stücks.

Die Werkstatt gab Gelegenheit, das Instrumentarium, das Heiner Müller an Shakespeare geübt hat, zu überprüfen und zur heutigen gesellschaftlichen und politischen Situation in Beziehung zu setzen. Sie bedeutete gleichzeitig eine Herausforderung für die junge Theatergeneration, in der Konfrontation damit eine eigene Sprache zu finden.

Die freienkammerspiele mit ihrem damaligen Intendanten Tobias Wellemeyer boten ein Forum für die Arbeit, zur Diskussion und zur gegenseitigen Verständigung. Studenten verschiedener Hochschulen und Institute aus West- und Ostdeutschland hatten Gelegenheit, mit einem führenden jungen Theaterensemble in Ostdeutschland zusammenzuarbeiten. Ein weiterer Aspekt war der Austausch über einen sehr aktuellen Stoff und seinen Autor zwischen jungen Regisseuren und Theaterleuten, die gemeinsam mit Heiner Müller gearbeitet haben.

Parallel zur Werkstatt fand ein Seminar „Heiner Müller. Dramaturgie“ statt, geleitet von Günther Heeg und Wolfgang Storch. An diesem Seminar nahmen auch Schüler aus Brandenburg teil, die imm Theaterclub der freienkammerspiele mitarbeiteten.



ANATOMIE TITUS FALL OF ROME EIN SHAKESPEAREKOMMENTAR

Heiner Müller begann die Arbeit an dem Stück „Anatomie Titus Fall of Rome Ein Shakespearekommentar“ im Mai 1983 und beendete sie im Frühjahr 1984. Das Stück wurde am 14. Februar 1985 durch Manfred Karge und Matthias Langhoff am Bochumer Schauspielhaus uraufgeführt.

„Der Plan dazu war alt, wie immer“, schrieb Heiner Müller in seiner Autobiographie ‚Krieg ohne Schlacht‘. „Ich hatte eine Vorstellung davon seit meinem ersten Aufenthalt in Rom und seit dem CIA-Putsch gegen Allende mit der Verwandlung von Fußballstadien in Konzentrationslager und Begegnungen mit Jugendbanden von New York bis Rom.“

Am 11. September 1973, auf den Tag 28 Jahre vor der Zerstörung der Twin Towers, brannte der Regierungspalast von Chile. Das war das Ende der chilenischen Demokratie. „Das neue Rom heißt USA, Che Guevara ist das Kreuz des Südens,“ schrieb Heiner Müller am 27. März 1983 an Mitko Gotscheff.

Shakespeares Stück spielt in einer Zeit des inneren und äußeren Zerfalls. Rom, die zivilisierte urbane Welt, „die große Hure der Konzerne“, wird von „Barbaren“ bedrängt. „Was mich an dem Stoff vor allem interessiert hat, das war der Einbruch der Dritten Welt in die Erste Welt.“ Heiner Müller fand in Shakespeares früher Tragödie das Material, das er für einen „Shakespearekommentar“ aus der Sicht unserer Zeit nutzbar machen konnte. „Shakespeare ist ein Spiegel durch die Zeiten, unsre Hoffnung eine Welt, die er nicht mehr reflektiert. Wir sind bei uns nicht angekommen, solange Shakespeare unsre Stücke schreibt.“

Nach dem Mauerfall verwies Heiner Müller auf die große Aktualität von „Anatomie Titus“. Nach dem babylonischen 11. September ist die Aktualität eklatant. „Rom“, Bild für die Untergangsgesellschaft der Alten und Neuen Welt, sieht sich einer Invasion der „Goten“ gegenüber: die Armen und Hungernden der Dritten Welt. Im Gegensatz zu Shakespeare läßt Heiner Müller am Ende des Stückes einen neuen Konflikt aufbrechen: der neue Kaiser Roms, Titus‘ Sohn Lucius, der seine Krone dem Einsatz der Goten verdankt, will sie reich beschenkt wieder in die Steppe schicken. Die Goten denken aber daran, in Rom zu bleiben. Lucius reagiert mit aggressivem Rassismus. Die Goten werden Rom zerschlagen.

Heiner Müller hat seinem Stück ein Motto vorangesetzt: „Der Menschheit / Die Adern aufgeschlagen wie ein Buch / Im Blutstrom blättern“. Es beschreibt „die fragwürdige Position des Autors als Schreibtischtäter, beziehungsweise zwischen Opfern und Tätern, aus der Erfahrung der Diktatur.“ Die Goten haben sich einer fremden Kultur angenähert, sie in sich aufgenommen. Sie haben Ovid gelesen und nehmen ihn blutig beim Wort. „Es geht um das Verhältnis von Schrift und Blut, Alphabet und Terror.“ Im Afghanistan-Krieg, den die Russen führten, „drückte sich der Widerstand gegen die Alphabetisierung, gegen das Aufzwingen eines fremden Alphabets noch darin aus, daß die Mudschaheddin die toten Verräter amputierten und kastrierten, das eigene Alphabet den toten Körpern einschrieben.“ Die Sprache ist das Zentrum und die Wurzel. Der Autor transportiert über den Kommentar seine Position und seine Wirklichkeit in das Stück. Der „Schreibtischtäter“ schreibt sein Alphabet in Shakespeares Stück ein.


PROGRAMM

Samstag, 28. Juni
Anreise der Teilnehmer
19.30 Uhr
Hugo v. Hofmannsthal: „Elektra“
Regie: Aureliusz Smigiel
anschließend Nachtcafé


Sonntag, 29. Juni
11.00 Uhr
Treffen aller Beteiligten
Besprechung der Aufgaben und Arbeitsgruppen
Arbeitsbeginn 4 Inszenierungswerkstätten

20.00 Uhr
„Heiner Müller Shakespeare Factory“
Vortrag von Hans-Thies Lehmann, Frankfurt a.M.
anschließend Gespräch


Montag, 30. Juni
10.00 Uhr
4 Inszenierungswerkstätten

11.00 – 16.00 Uhr
„Sehen heißt die Bilder töten“
Werkstatt Heiner Müller. Dramaturgie

20.00 Uhr
„Uraufführung. Anatomie Titus Fall of Rome“
Vortrag von Matthias Langhoff, Paris


Dienstag, 1. Juli
10.00 Uhr
4 Inszenierungswerkstätten

11.00 – 16.00 Uhr
„Sehen heißt die Bilder töten“
Werkstatt Heiner Müller. Dramaturgie

20.00 Uhr
„Terror und Krieg nach dem 11. September 2001.Tschetschenisches Beispiel“
Vortrag von Mikhail Ryklin, Moskau


Mittwoch, 2. Juli
10.00 Uhr
4 Inszenierungswerkstätten

11.00 – 16.00 Uhr
„Sehen heißt die Bilder töten“
Werkstatt Heiner Müller. Dramaturgie

Abschluss der Dramaturgiewerkstatt mit einer Performance der Teilnehmer im Allee-Einkaufszentrum Magdeburg

20.00 Uhr
„Vorkrieg. Krieg. Nachkrieg / Brecht. Shakespeare. Müller“
Vortrag von Wolfgang Storch, Volterra


Donnerstag, 3. Juli
10.00 Uhr
4 Inszenierungswerkstätten

20.00 Uhr
„ ‚Titus‘ in der Wirklichkeit“
Bericht von Thomas Heise, Berlin


Freitag, 4. Juli
10.00 Uhr
4 Inszenierungswerkstätten

20.00 Uhr
„Müller haut uns raus“
Lesung mit Jochen Schmidt, Berlin

anschließend Nachtcafé: Jochen Schmidt legt auf


Samstag, 5. Juli
10.00 Uhr
gemeinsame Probe plus Technik

20.00 Uhr
öffentliche Aufführung von Text- und Arbeitsproben „Anatomie Titus“

anschließend Gespräch und Nachtcafé:
„Fetita Mica Mia“ – Balkan Brass


Sonntag, 6. Juli
Abreise der Teilnehmer

© Margit Broich

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