Der Mensch im Krieg, damals wie heute. Der Horatier als Schulstück
Der Treppenaufgang zur Aula des Rosa-Luxemburg-Gymnasiums in Berlin-Pankow ist rappelvoll; ein aufgeregtes Summen oder Surren liegt in der Luft. Mehr als 200 Gäste sind gekommen, um sich die Inszenierung des Grundkurses Darstellendes Spiel der Klasse 11 anzusehen. Freunde, Eltern, aber auch externes Publikum und sogar Müller-Interessierte.
Gespielt wird Der Horatier (1968) von Heiner Müller. Kein leicht zu inszenierendes Stück, auch ein wenig gespieltes, eines, bei dem Müller seine Maxime besonders umsetzte: „Ich glaube grundsätzlich, daß Literatur dazu da ist, dem Theater Widerstand zu leisten. Nur wenn ein Text nicht zu machen ist, so wie das Theater beschaffen ist, ist er für das Theater produktiv, oder interessant.“ (W10, S. 57) Nach einem Jahrzehnt der sogenannten Produktionsstücke (und Agrarstücke) war dieser Theatertext der erste, bei dem es weder Akte oder Szenen noch individuelle Charaktere/Darsteller und keine vorangestellte Liste der auftretenden Personen gibt. Die Geschichte wird im Blocktext monologisch von einem Erzähler berichtet, der nur gelegentlich Dialogfetzen einstreut, die zwar handelnden Figuren, aber keinen konkreten Darstellern zugewiesen sind. So hat der Text eher epischen (1) als dramatischen Charakter, da er nicht dialogisch arbeitet.
Wie nun gehen nun die Schüler:innen mit dieser Herausforderung um? Recht Brechtisch, chorisch, kollektiv, wie Müller es im Kommentar zum Stück angedeutet hat (2) : Die 18 Schülerinnen und Schüler, alle einheitlich in schlichten schwarzen Hosen und Shirts gekleidet, bleich geschminkt mit roten Lippen, sprechen den Text im Chor, alle oder in vier Untergruppen; nur gelegentlich übernimmt jemand eine Passage allein. Eine Gruppe agiert eher im Vordergrund und erzählt das Narrativ weiter, während die anderen den Hintergrund gestalten, sodass alle immer präsent sind. Dies entspricht der allgemeinen Demokratisierung von Redeanteilen im zeitgenössischen Schultheater genauso wie Müllers Vorgabe.
So erzählen sie die Fabel, die vordergründig eine Rechtsfrage stellt: Die Städte Rom und Alba (Longa), stehen vor einem Kampf gegeneinander, doch da sie beide noch einen größeren gemeinsamen Feind, die Etrusker, erwarten, kommen sie zu der pragmatischen Lösung, nicht ihre Heere aufzureiben, sondern es durch je einen Stellvertreter ausfechten zu lassen. Der Römer aus der Familie der Horatier siegt und tötet seinen albanischen Gegner, den Kuriatier, obwohl dieser mit seiner Schwester verlobt ist.(3) Der Horatier wird vom römischen Volk jubelnd empfangen, seine Schwester jedoch weint bitterlich. Erzürnt über diese Illoyalität zum siegreichen Rom, tötet ihr Bruder sie – wie der Text mehrfach betont – „ohne Notwendigkeit“. Die Frage ist nun, ob Horatius als Held Roms geehrt oder als Mörder hingerichtet werden soll. Zur Klärung berufen die Liktoren eine Volksversammlung ein, bei der – wieder durch zwei Vertreter – alle Argumente gewogen werden, und das Urteil lautet: beides, hintereinander. Dann stellt sich die analoge Frage nochmals angesichts des Umgangs mit dem Leichnam: sich vor dem Toten verneigen oder ihn den Hunden zum Fraß vorwerfen (wieder: beides), und schließlich ein drittes Mal in Bezug auf die Erinnerung der Nachwelt (ergo: Geschichtsschreibung): Soll er „Sieger über Alba“ genannt werden oder „Mörder seiner Schwester“, und das Volk entscheidet einstimmig: beides, „[m]it einem Atem sein Verdienst und seine Schuld“, nicht nur das eine oder das andere und schon gar nicht opportunistisch mal so, mal so, denn – und dies kann wohl als Credo des Geschichtsdramatikers und Zeitchronisten Müller betrachtet werden:
Nämlich die Worte müssen rein bleiben. Denn
Ein Schwert kann zerbrochen werden und ein Mann
Kann auch zerbrochen werden, aber die Worte
Fallen in das Getriebe der Welt uneinholbar
Kenntlich machend und die Dinge oder unkenntlich. (W4, S. 84)
Natürlich haben die Schülerinnen und Schüler nach dem ersten „Schock“ dieses besonderen Textes schnell verstanden, welche Brisanz und Relevanz diese Fragen für heutige Kriege und Erinnerungsdiskurse haben, denn Geschichtsdeutung kann Macht zementieren oder auch als Rechtfertigung von Angriffen dienen. Die eine fand Zugang zum Text über die Sprache, die andere vergrub sich in die antike Überlieferung des Livius, wieder andere lasen den Text zunächst „nur“ als eine Art „True-Crime-Story“. Weitere erarbeiteten sich den Text über das Spiel. Die Herausforderung bei einem solchen Text, mit seinem Abstraktionsgrad, seinem epischen Angang, seinen Redundanzen und dem hämmernden Versrhythmus, besteht darin, der Wortlastigkeit eine Körperlichkeit entgegenzusetzen. Dies haben die Schüler:innen gestalterisch hervorragend gelöst, indem alle mit je einem großen Stab (als einziges multifunktionales Requisit) die Vorgänge symbolisch-gestisch in synchronen Gruppenkonstellationen anspielten: mal als Speere, mal überkreuzt als Schilde, dann als Schwert im Kampf und Tötungsvorgang, aber auch geformt zu einer Rahmung, genutzt als Stütze oder als Repräsentationsinstrument bei feierlicher Ehrung oder Verdammung. Der Stab steht auch für das Wort, um das es ja auch letztlich geht; darum beginnt und endet die Vorstellung mit den vielen Stäben in einem Eimer, die dazwischen auf die Spieler:innen verteilt sind. Dazu der Song „There Is an End“ von The Greenhorns („Words disappear...“).
Dies trägt der Tatsache Rechnung, dass das Stück, nach den anfänglichen Kampfszenen, im Prinzip eine öffentliche Gerichtsverhandlung ausagiert, was eine gewisse Stilisierung und Ritualisierung erfordert, die der antiken Vorlage entspricht. Denn die Liktoren, die im Alten Rom hohen Staatsbeamten, Magistraten oder auch Vestalinnen vorausgingen, waren mehr als nur Richter und Henker, sondern hatten ebenfalls sakrale Funktionen, die teils von den Etruskern übernommen wurden(4) . Sie trugen das Beil zur Hinrichtung in einem Bündel aus Birken- oder Ulmenruten, genannt „fasces“, die durch Bänder zusammengebunden wurden (das lateinische „lictores“ leitete sich wohl von „ligare“ = „binden“ her) und im positiven Fall mit Lorbeer geschmückt, im negativen Fall zum kathartischen Geißeln/Auspeitschen genutzt wurden. Solchen zeremoniellen Aspekten nähert sich die Gestaltung der Schülerinnen und Schüler an, wenn das Ensemble in langsamen, synchronen Gruppenbewegungen symbolisch Strafe oder Ehrung simuliert und im schneller werdenden Rhythmus den Stab auf den Boden schlägt. Insgesamt wird mitunter sparsam Musik zur Untermalung der szenischen Wechsel zwischen den 14 Textabschnitten eingesetzt, etwa The Unknown Soldier von den The Doors oder danach ausschließlich Stücke aus dem Soundtrack von Tarantinos Filmen, wie z.B. Kill Bill, Pulp Fiction, Django Unchained. Tracks, die zu SloMo-Impressionen passen und eine popkulturelle Referenz zum alltäglichen medialen „Konsum“ von MartialArtMovies, Fighting-Games und -Videos usw. darstellen sollen. Alle Ensemblemitglieder sind stets auf der Bühne und sortieren sich regelmäßig zu neuen Gruppenformationen.
Unterstützt wird dieser Ansatz durch die leere Bühne, die nur in der Rückwand ein stilisiertes Tor aufweist. Die Bühnenentwürfe des Grundkurses Kunst, die im Vorraum ausgestellt waren, wurden auf ein Minimum reduziert, somit auch der Bezug zur Antike. Denn Müller ging es, angesichts des Einmarsches der Warschauer-Pakt-Truppen in das aufständische Prag 1968, um die beiden Totalitarismen des 20. Jahrhunderts, Sozialismus und Nationalsozialismus. Deshalb hat er mit der Erwähnung der Rutenbündel gewiss bewusst einen diskreten Hinweis versteckt: Denn aus dem italienischen Wort für „Bündel“ oder „Bund“, „fascio“, leitete ein gewisser Benito Mussolini den Namen seiner Bewegung, „Faschismus“, her, was das Bündeln aller Volkskräfte bedeuten sollte. Daher enthält das Stück die Warnung, dass die Negation der Humanität, z.B. des Schmerzes des Einzelnen, unter die Staatsräson, wie es der Horatier zu Unrecht von seiner Schwester verlangt, oder anders gesagt: die Unterordnung des Individuums unter das Kollektiv, zum Totalitarismus führt. Insofern dürfen die synchronen Bewegungen und die chorische Kraft des Ensembles durchaus Unbehagen auslösen.
Somit ist Der Horatier ein Lehrstück im Sinne Brechts, wie es dieser selbst und später Reiner Steinweg(5) ausbuchstabiert haben: Ein (soziales) Kollektiv aus Individuen soll durch das Spielen einen kritischen Erkenntnisprozess durchlaufen. Aus der Durchführung bestimmter Handlungsweisen, Einnahme von Haltungen, Wiedergabe von Reden usw. soll gesellschaftliches Bewusstsein erwachsen; es können körperliche und emotionale Erfahrungen gemacht werden. Die formale Strenge soll dem nicht im Weg stehen, sondern die ästhetische Intensität noch verstärken, die dann in Reflexion übergehen kann.
Zugleich spürt man als Zuschauer in dieser Schul-Aufführung im Rosa-Luxemburg-Gymnasium das, was im professionellen Theater durchaus manchmal verloren gehen kann, die reine Spielfreude im Schiller’schen Sinne, die Begeisterung von Schülerinnen und Schülern, an etwas mitzuwirken, das größer ist als der Einzelne und doch jeden ganz individuell anspricht (oder auch nicht). Deshalb war Brechts Die Horatier und die Kuriatier ausdrücklich als Schulstück konzipiert, was beim damaligen Bildungssystem hieß: für Kinder. Dem folgte Müller mit seiner Behauptung, dass sein Horatier „eigentlich von Erwachsenen nicht gespielt werden kann. Es ist eigentlich ein Kinderstück, Kinder spielen Politik.“(6) Damit tut Müller allerdings nicht nur seinem eigenen Text Unrecht, der ein deutlich höheres Reflexionsniveau hat, als hier anklingt, sondern auch den 16-17-jährigen jungen Erwachsenen, die sich diesem Niveau offenbar gestellt und Verschiedenes mitgenommen haben.
Schließlich ist das Lehrstück eigentlich zum Lernen für die Spieler und Spielerinnen gedacht, nicht zur Belehrung des Publikums. Ein solches ist letztlich verzichtbar. Aber schaden kann es natürlich nicht, wenn über 200 begeisterte Zuschauer zu Recht Applaus spenden.
Janine Ludwig
22. und 23. 05. 2025: Der Horatier
Grundkurs Darstellendes Spiel Klasse 11
Rosa-Luxemburg-Gymnasium, Kissingenstr. 12, 13178 Berlin
Spielleitung und Kontakt: Monika Weng, Studienrätin für Philosophie/Theater, Darstellendes Spiel
(1) Müller war natürlich inspiriert von Bertolt Brechts Lehrstück Die Horatier und die Kuriatier (Erstdruck 1936, UA 1958), übernahm jedoch nicht dessen Ergänzungen und Erweiterungen zur historischen Quelle von Titus Livius: Ab urbe condita (libri), auf Deutsch „Seit der Gründung der Stadt“ bzw. „Römische Geschichte“, Buch I, Kapitel 22-26. Im Gegensatz zu Brecht fokussiert Müller diese Geschichte, die im 7. Jh. v.u.Z. spielt, weniger auf den Kampf selbst (den er auch von sechs Personen bzw. 2x3 Gegnern auf zwei Gegner reduziert) als auf die Ereignisse im Nachgang (Kapitel 26), die Tötung der Schwester und die anschließende Versammlung.
(2) „Wer seinen Text gesprochen und sein Spiel gespielt hat, geht in seine Ausgangsposition zurück bzw. wechselt die Rolle.“ (W4, S. 86)
(3) Beide waren nach ihrer Auslosung gefragt worden, ob sie aus diesem Grund lieber einen erneuten Loswurf wünschten und hatten verneint.
(4) Vgl. Gladigow, Burkhard: Die sakralen Funktionen der Liktoren. Zum Problem von institutioneller Macht und sakraler Präsentation. URL: https://www.google.com/url?sa=t&source=web&rct=j&opi=89978449&url=https://tobias-lib.ub.uni-tuebingen.de/xmlui/bitstream/handle/10900/123004/Gladigow_025.pdf%3Fsequence%3D1%26isAllowed%3Dy&ved=2ahUKEwiu74X2gvuNAxXVQvEDHbTeKNsQFnoECBcQAQ&usg=AOvVaw3FyCCzvKXDn17gp8vGjEY9.
(5) Vgl. Steinweg, Reiner: Das Lehrstück. Brechts Theorie einer politisch-ästhetischen Erziehung. Stuttgart: Metzler, 1972.
(6) Müller, Heiner; Schall Johanna: Gespräch mit den Schauspielstudenten über Der Horatier. In: Akademie der Künste der DDR (Hg.): Der Lohndrücker. Dokumentation 1988, Band 2, S. 97.