Heiner Müller und der "theologische Glutkern"
Müllermeeting #8
Montag, 5. Mai 2025, 19 Uhr (online)
Hans-Rüdiger Schwab
Nein, er habe „keine Religion“, sei „nicht religiös“, erteilte Müller über sich selbst einmal Auskunft. Öffnendes „Aber“ nachgeschoben allerdings, indem er die „Zeichen- oder Symbolsprache“ des angeblich so Fernen hervorhob, „mit der man ungeheuer viel sagen“ könne. Ignoriert wurde das Thema von ihm jedenfalls mitnichten. Eine darauf bezogene Semantik und Bildlichkeit sprenkelt vielmehr seine Arbeiten, verfremdet teils.
Am Beispiel des Marxismus identifiziert er einen „theologischen Glutkern“ als unhintergehbare Kraftquelle zur (die Wortwahl lässt aufhorchen!) „Erlösung aus dem Leben in der Tiefe: wenn der kalt wird, dann hat das Ganze keine Anziehungskraft mehr“. Wie Walter Benjamin sah Müller „den Hauptzweck“ kapitalistischer Gesellschaften darin, die unerträgliche „Gewißheit des eigenen Todes“ durch Verheißung ständigen Wachstums und Fortschritts zu betäuben.
Seit der diagnostizierten Krankheit, dem eigenen „rendezvous mit dem tod“, macht das vorher gesellschaftlich relevante Problem sich nun am eigenen Leibe bemerkbar. Das „letzte Abenteuer“ fordert mancherlei Fragen heraus.
Für Gott, den Großen Anderen, hat in der deutschen Gegenwartsliteratur niemand solch krasse Denkbilder gewählt wie Müller, der Extrempoet. Als „WÜSTE“ variiert er ihn (mit Meister Eckhart). Als „Wiedergänger aus einer anderen Galaxis“ auch, als „Zombie“. Als „vielleicht ein Virus / Der uns bewohnt“, wie es im Fragment eines nachgelassenen Stücks heißt. An der Schwelle zur letzten Erfahrung wird er erkennbar, denn: „ZEIT IST FRIST“.
Ließe sich auf all das ein Reim machen? Erwägendes Diskutieren der Texte will es jedenfalls versuchen.
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Hans-Rüdiger Schwab (* 1955 in Karlsruhe) studierte in Würzburg und München Germanistik und Katholische Theologie. Promotion bei Walter Müller-Seidel mit einer Arbeit zum „Politischen und sozialen Bewusstsein der deutschen Spätromantik“. Tätigkeiten im Kulturmanagement, als freier Autor (u. a. für die Reihe „Zeugen des Jahrhunderts“ beim ZDF) und Dramaturg am Schauspielhaus Zürich. Von 1991 an Leiter der Redaktion „Kunst und Literatur“ (danach: „Geistesgeschichte“) beim Fernsehen des Bayerischen Rundfunks. 1996 Wechsel als Professor für „Ästhetik und Kommunikation/ Kulturpädagogik“ an die Abteilung Münster der Katholischen Hochschule Nordrhein-Westfalen.
Zahlreiche Fernsehfilme und gespräche, Sendungen u. a. mit Leszek Kolakowski, Allen Ginsberg oder Jewgenij Jewtuschenko, wie Arbeiten zur Literatur, Philosophie und Theologie. Mitherausgeber der Großen Werkausgabe von Lou Andreas-Salomé.