Die Sonne zergeht auf der Zunge
von Etel Adnan (2004)
Die Frage der Sprache war für Heiner Müller zentral, unter dem literarischen Gesichtspunkt ebenso wie dem politischen. Er hatte beim Einsatz des geschriebenen Wortes auf dem Theater eine Intensität des Lebens erreicht, die bis zum verbalen Exzess ging. Was die Bedeutung der Sprache betrifft, so betonte er immer wieder, dass der Niedergang eines gemeinschaftlichen Geistes mit der Beschädigung der Sprache beginnt.
Er hat sich ausschließlich als Theatermensch verstanden und jeden Versuch, Prosawerke zu schreiben, zurückgestellt. Die einzigen Kompromisse, die er akzeptierte, waren, wie er gestand, jene, die ihm zum Schreiben verhalfen, um damit weiter an Werken zu arbeiten, die für das Theater bestimmt sind, und sie auf der Bühne zu zeigen.
Was das Theater von den anderen Künsten unterscheidet, ist sein einzigartig oraler Charakter. Die geschriebenen Texte funktionieren wie Partituren. Die Poesie war wohl in ihrem Ursprung die orale Kunst einer Stammesgemeinschaft, hat sich aber bald in der Schrift fixiert und sich der Einsamkeit des Lesers übereignet. Das Theater basiert auf den Tugenden der Sprache. Es muss kommunizieren, es muss die Rampe passieren. Die Macht des Wortes ist uranfänglich. Sie dominiert die anderen Fähigkeiten. Sie setzt ein mit den ersten Worten der Kindheit. In sich trägt sie einen magischen Imperativ. Von ihrem göttlichen Erbe, wie es sich durch Zeichen und besonders durch das Wort manifestiert, berichten die meisten Traditionen. „Du seiest!“, sagten die Götter. „Du seiest!“, sagt der Gott des Koran, um das Universum zu schaffen. „Am Anfang war das Wort“, sagt das Johannes-Evangelium.
In der griechischen Welt bezeugten die Orakel ihre Visionen durch das Wort. Hölderlin verlieh dem poetischen Wort die Funktion, das Sein zu begründen. Man kann hinzufügen, dass das (kodifizierte) Wort die Geschichte begründet: ohne die rezitierten und gesungenen Verse der Ilias wäre der Trojanische Krieg nur eine Folge blutiger Ereignisse gewesen, verloren im Nichts der Zeit. Man könnte der gleichsam diabolischen Macht der Medien ihre Dominanz bei der Manipulierung der Realität der Dinge, wie sie in der Welt sind, vorwerfen. Das Wort ist eine absolute Waffe.
Sophokles demonstriert in seiner Tragödie “Philoktet“ rückhaltlos die Macht der Sprache. Die Handlung ist dort praktisch gleich null. Sie ist wesentlich verbal, ihr Ausgang ist bestimmt durch die Wirkkraft oder die Niederlage des Wortes. Das Schicksal eines Menschen, geschlagen durch unsägliche Leiden, dessen Ende bestimmt wird durch ein regelrechtes Wortgefecht, musste Heiner Müller interessieren: der Schmerz und die Sprache, einander konfrontiert, ist eine ideale Situation für den deutschen Dramatiker. Für ihn, der die Macht der Propagandastrategien verschiedener Staaten, die die Manipulation der Massen dank der enormen technologischen Mittel zu einer Wissenschaft gemacht haben, erlitten und bloßgestellt hat.
Die griechische wie die deutsche Version des tragischen Lebens von Philoktet zeigen, dass die Sprache der Partner des Todes ist. Das hört man als dunkles musikalisches Rollen im Epos, aus dem die großen griechischen Tragödien hervorgehen, und man hört es auch im Ensemble der Stücke von Müller.
Das Theater ist eine Tötung – so wie der Stierkampf. Das Instrument, das Werkzeug dieser Tötung ist das Wort. Diese Macht zeigt sich nirgends so radikal, so klinisch, wie in diesen beiden Werken. Die Partnerschaft zwischen der Sprache und dem Tod ist dynamisch, ist eine Schlacht. Am Ende dieser Tragödie sind die Protagonisten zermürbt durch ihre Sprachorgie, ausgezehrt. Ausgeleert schweigen sie gegenüber der Leere. Ihr Schweigen ist der Ausgang des Stücks.
Die Sonne zergeht auf der Zunge. Sie hat sie verbrannt. Das Vorhaben ist auf Grund gelaufen, und Philoktet ist tot. Das Wort hat den Tod herausgefordert, und seine Macht endete durch das Sterben. Diese Herausforderung hat Lyrik hervorgebracht, Dichtung, würde ich sagen. Beide Tragödien sind lange Poeme. Besonders die Version von Heiner Müller ist geschriene und gesungene Sprache. Ihre Dringlichkeit und ihre entfesselte Lyrik gleicht den Symphonien von Schostakowitsch, den Werken von Prokofiew, obsessiv, repetitiv, ungestüm, tragische Kompositionen für eine Epoche ohne Maß. Dieses Werk des deutschen Dramatikers ist ein Requiem, wo die Sprache sich auf der Bühne behauptet, aber im Geist widerhallt als ein Gesang, ein Gesang, der fähig ist, sich zu den misteriösen, unendlichen Dimensionen der Sinngebung des Todes zu erheben.
Aus dem Essay „Le Soleil fond sur la Langue“, der in „Drucksache N.F. 7 Etel Adnan“ erscheinen wird. Übersetzung aus dem Französischen: Wolfgang Storch.