Apokalypse Now? Philosophie nach dem 11. September

von Mikhail Ryklin (2004)

[...]

II

Was die sieben bekannten zeitgenössischen Philosophen zu den Terroranschlägen vom 11. September meinen, dürfte klar geworden sein. Die Auswahl eben dieser Denker hängt damit zusammen, dass ich im Verlauf der letzten zehn Jahre Gelegenheit hatte, mit ihnen über Philosophie zu diskutieren. Daher interessierten mich natürlich ihre Reaktionen auf jene Ereignisse, die – wenn man der übereinstimmenden Sichtweise von Millionen Menschen Glauben schenken will – „alles verändert haben“, nach denen „so zu leben, wie man zuvor gelebt hat, unmöglich geworden ist“ und dergleichen mehr. Was bedeuten solche pathetischen Aussagen? Kann denn ein traumatisches Erlebnis so schnell intellektuell anverwandelt werden? Wurden gar neue Verfahren gefunden, die einen Horizont zum Erfassen von Ereignissen schaffen, deren weltumfassende Bedeutung nahezu niemand (eine äußerst seltene Konstellation) in Abrede stellt?
Zum analytischen Teil der Überlegungen: Alle zur Sprache gekommenen Philosophen waren, einzig Richard Rorty ausgenommen, der übereinstimmenden Auffassung, dass Terror nichts jenseits des rasanten Globalisierungsprozesses zu verorten ist, sondern dessen integralen Teil bildet, dass der Terror ein Produkt dieses Prozesses darstellt. Die Terroristen beherrschten nicht bloß ein ganzes Arsenal von neuesten Technologien, sondern programmierten auch die massenmediale Wirkung ihrer Tat vor. Die Informationsmaschinerie der westlichen Welt arbeitete zum ersten Mal für sie. Das Vorgefallene wurde nach außen projiziert, um seine Spezifik zu tilgen. Die stumme Botschaft der Terroranschläge bestand eben darin, dass es nichts jenseits der globalen Ordnung gibt; die Herausforderung an diese Weltordnung lässt sich genauso wenig lokalisieren wie diese Ordnung selbst. Die Freiheit, die nicht mit der „globalen Öffentlichkeit“ koinzidiert, braucht für ihr Bestehen beträchtliche (und stetig expandierende) Enklaven von Unfreiheit. Selbst im Grunde ein terroristisches System, schaffte es die neue Weltordnung über lange Zeit, die Gewalt nach außen zu exportieren – doch am 11. September kehrte diese wie ein Bumerang zu ihr zurück und zerstörte ihre wichtigsten Symbole. Dasjenige hingegen, was vom herrschenden System als Terror definiert wird und notwendiger Weise in Form eines Feindbildes nach außen projiziert wird, bildet das ureigenste Wesen dieses Systems (besonders energisch pochen darauf Baudrillard, Virilio, Žižek, Buck-Morss und Groys). Indem das herrschende System sich jedoch sträubt, dieses sein eigenes Wesensmerkmal als solches anzuerkennen, ist es außerstande, die richtige Diagnose zu stellen und ein differenzierteres Programm von Gegenmaßnahmen zu entwerfen. Die Losung „Krieg gegen den Terror“ enthält eine verborgene Tautologie, die sich als „Terror gegen den Terror“ dechiffrieren lässt. Genau dieser Teufelskreis aber macht ein adäquates Verständnis dessen, was da eigentlich geschehen ist, unmöglich.
Als Reaktion auf eine neue nicht-staatliche, von ihrer Deterritorialisierung her mit international operierenden Konzernen vergleichbare Spielart des Terrors (Žižek nennt diese unverblümt „den obszönen Doppelgänger der multinationalen Konzerne“) begann eine massive „Reinwaschung“ des traditionelleren, mit staatlichen Institutionen verbundenen Terrors (den Terror durch Geheimdienste eingeschlossen, der eine lange und praktisch ununterbrochene Geschichte hat). Nach dem 11. September wurde Terror plötzlich verengend definiert – als Ausdruck von Aggression fanatischer Fundamentalisten gegen die „freie Welt“ – und in der Person des Erzterroristen personifiziert, durch dessen Beseitigung dem Terror vermeintlich der entscheidende Schlag versetzt würde. Durch die Figur des angenommen Urhebers und Schuldigen soll hingegen augenscheinlich das Ereignis selbst liquidiert werden. Dabei werden die Grundmechanismen dieses Ereignisses von der Mehrheit der untersuchten Autoren (mit Ausnahme Rortys, auf den noch zurück zu kommen sein wird) als apersonale Folgen aus einem nicht weniger apersonalen Kontext angesehen, wie er von der Globalisierung geschaffen wird. Der Versuch, diese Folgen zusammen mit der Person des Schuldigen zu beseitigen, gehört der Ordnung des Imaginären an, während es auf der Ebene des Symbolischen lediglich die Fiktion von Schuld gibt. Am 11. September forderte nicht etwa das Böse das Gute heraus, sondern erlebte die globale Ordnung die Implosion ihrer Symbole, indem sie erstmals die Logik der von ihr geschaffenen Situation bloßlegte. Der Terror setzt das Symbolische auf brutale Weise wieder in seine Rechte ein und fordert das bestehende System universellen Tauschs heraus (Baudrillard nennt dieses deshalb auch „System ‚Null Tote’“, Žižek das Leben von „Nietzsches letzten Menschen“, und Groys vergleicht die Taten der Terroristen mit den apersonalen Strategien der zeitgenössischen Kunst).
Wenn er das Problem der „eigenen Schuld“ aufwirft, spricht Jacques Derrida noch von den „Fehlern“ der westlichen Welt, für die es nun „den furchtbarsten Preis“ zu zahlen gelte. Žižek greift Derridas Definition von „unendlicher Gerechtigkeit“, die notwendiger Weise vor allem die Menschen im Westen selbst einschlösse, enthusiastisch auf und appelliert, aus der Situation eine „Hegelsche Lektion“ zu ziehen: Was als Allerfremdestes, Äußeres exteriorisiert werde, als etwas, das uns von außen angreife, sei ein ureigenster Teil unserer selbst. Das Hauptreservoir für Differenz sei nicht die Arbeit der Differenzen, wie sie von der Dekonstruktion in Gang gesetzt wurde, sondern die Identität selbst. Baudrillard ersetzt die „Fehler“ in Derridas Verständnis durch den in der Weltordnung selbst (vor allem in der nach dem Kalten Krieg einzig übrig gebliebenen Supermacht) verkörperten systematischen Terror. Von daher seine schockierende Formulierung, dass „sie es sind, die es getan haben, aber wir es sind, die es gewollt haben“ (11) – sowie seine Überzeugung, dass der Preis für das Unverhältnismäßige nicht anders als unverhältnismäßig sein könne, alldieweil die zweite Unverhältnismäßigkeit lediglich das Echo der ersten darstelle.
Die digitalisierte, deterritorialisierte Welt – so lautet eine weitere These Baudrillards – ist nicht bloß für ihre Opfer in den Ländern der Dritten Welt unerträglich, sondern vor allen Dingen für diejenigen, die in vollem Umfang von den Segnungen von Digitalisierung und Deterritorialisierung profitieren: jede neue Drehung der Globalisierungsspirale verstärke deren symbolische Armut. Unmenschlich seien mithin nicht die Exzesse des universellen Tauschs, sondern dieser Tausch selbst. Nicht nur der Lebensstandard, sondern auch das System des universellen Tauschs lasse sich nicht über die Grenzen der westlichen Welt hinaus exportieren – und werde sich auch noch auf lange Zeit nicht exportieren lassen. Den Terroristen des 11. September sei es gelungen, wider den Imperativ des Lebens um jeden Preis (der seine Fortsetzung im Zerrbild eines rein technologischen Krieges, eines „Kriegs per Knopfdruck“ habe) die Unvorstellbarkeit des eigenen Todes zu inszenieren.
In all diesen Übergangsstufen zwischen der Dekonstruktion und den verschiedenen (nicht nur Baudrillardschen) Varianten von Simulationismus bleiben doch wesentliche Unterschiede bestehen (Unterschiede, die im Übrigen eine gewisse Ähnlichkeit in den Grundannahmen nicht ausschließen).
Eine wirksame Art und Weise, dem Terror real entgegenzutreten, dürfte sich nicht bloß in der Aufzählung all der Ungerechtigkeiten erschöpfen, auf denen die nach dem Zerfall der Sowjetunion konsolidierte Weltordnung gründet (allein diese Liste wäre wahrhaft eindrücklich), sondern müsste das Potenzial an Autorepression offenlegen, auf dem die Freiheit fußt. Die neue Art von Terror problematisieren kann man nur, wenn man die freie Entscheidung für diese Freiheit in Frage stellt.
Für Richard Rorty bleibt die Opposition von Privatem und Öffentlichem fundamental und nicht-dekonstruierbar. Seine besonders heftige Reaktion auf das Geschehen vom 11. September erklärt sich damit, dass die Terroristen einen Anschlag auf die Reinheit dieser Opposition verübten. Hielte er diese Opposition nach Art von Jacques Derrida für eine Eigentümlichkeit der Geschichte der europäischen Metaphysik, d.h. für etwas kontextuell Bedingtes, wenngleich Althergebrachtes, so würde er nicht als Antwort auf diese Anschläge auf der „Verwestlichung“ des Planeten bestehen. Wenn er nicht jede Gesellschaft, in der die Demarkationslinie zwischen privat und öffentlich nicht so scharf gezogen ist, für „obszön“ ansähe, würde er kaum behaupten, dass der Westen, insbesondere die USA, von anderen Völkern absolut nichts zu lernen hätten. In der Opposition privat/öffentlich hat eine Philosophie „ohne Fundamente“, wie sie der amerikanische Pragmatist zu entwerfen beansprucht, ihr nicht diskutierbares, aber unablässig reproduziertes Fundament. Deshalb tritt Rortys amerikanischer Patriotismus in solchen Momenten besonders deutlich zutage, wo es so brennend nötig wird wie nie zuvor, die Grundlagen des Liberalismus zu hinterfragen. Rorty erkennt an, dass der Westen die Dritte Welt nicht an seinen eigenen Segnungen teilhaben lassen kann (darunter auch an der Segnung des Liberalismus, der für ihn auf der nicht-dekonstruierbaren Opposition von privat und öffentlich beruht). Ja mehr als das: Er gesteht zu, dass diese Segnungen selbst von den dafür verbrauchten Rohstoffen der Entwicklungsländer abhängen. Gleichzeitig aber erklärt er die Lösung dieses Widerspruchs zu einer inneren Angelegenheit der westlichen Länder (die Politiker sollten ihre Wähler davon überzeugen, was ihnen aber kaum gelingen dürfte; deswegen sei das Anliegen der Ökologie zum Scheitern verurteilt). Er reproduziert spiegelverkehrt das Hauptargument der Terroristen (als diese sich noch dazu „herabließen“, ihre Taten argumentativ zu begründen): „Wenn ihr unsere Ressourcen für eure innere Angelegenheit haltet, dann werden die von euch errungenen Freiheiten zu unserer inneren Angelegenheit machen. Wenn wir zu Terror greifen, dann enteignen wir bloß die Enteigner, wenden wir den Terror gegen den Terror, d.h. reproduzieren wir dieselbe Tautologie wie ihr auch.“
An diesem Punkt würde ich Susan Buck-Morss Recht geben: Subjekt der „global public sphere“ ist die gesamte Menschheit, und keine einzelne Nation oder Zivilisation. Wenn wir uns dieser Öffentlichkeitssphäre im eigenen Interesse bedienen – und sei es, wie es Rorty tut, unter Berufung auf die Ideen der Aufklärung und die Notwendigkeit der Beseitigung einiger Arten von Ungleichheit in einzelnen Ländern –, dann begeben wir uns des Rechts, guten Gewissens entsprechende Handlungsweisen von Seiten derer zu verurteilen, welche die von uns geschaffene Situation umzukehren streben.
Einen völlig anderen Zugang repräsentiert der Kunst- und Medientheoretiker Boris Groys. In den Terroranschlägen vom 11. September erblickt er nur ein weiteres Eindringen der Sphäre des Profanen in das, was er die „Hochkultur“ nennt. Zum Glück sei der heutigen Welt die Illusion des Profanen erhalten geblieben. Die Terroranschläge zerfallen für ihn in eine Ansammlung von Zitaten aus bekannten Katastrophen-Filmen aus Hollywood, bar jener Originalität, welche deren Urheber offensichtlich für sich beanspruchten. In ihrem Bestreben, die Produkte der Traumfabrik in den Schatten zu stellen, hätten sie eine Niederlage erlitten. Die Terroristen selbst seien ebensolche Vertreter des Mittelstandes wie diejenigen, die früher in andere Arten von Terror verstrickt waren (von den russischen Volkstümlern bis zu den „Roten Brigaden“). Ihr „Fundamentalismus“ etabliere sich auf dem westlichen intellektuellen Markt als Bild eines kontrollierbaren Anderen, das je nach Gelegenheit nach außen projiziert und personalisiert werden könne. Das maßlos Zerstörerische an diesen Terroranschlägen belegt nach seiner Auffassung gleichfalls ihre ästhetische Unvollkommenheit. Für Groys ist die Gegenüberstellung von profanem Bereich und Hochkultur eine grundlegende und nicht-dekonstruierbare Opposition. Darauf basiert jene Form des Erhabenen, als deren Prediger er auftritt.
Groys ist nur konsequent, wenn er den „Fundamentalismus“ der Terroristen als Produkt einer markttauglichen „Orientalisierung“ einstuft (damit ist der von Edward Said eingeführte „Orientalismus“-Begriff aufgerufen), als „Kostümierung“, die mit Religion nichts zu tun habe. Die Kehrseite der Unmöglichkeit des Verbrechens in einer Welt, deren Immanenz Transgression immer weiter ausschließe, sei das uneindämmbare Grassieren von verschiedenen Formen von Verschwörung, die Schaffung einer Atmosphäre allumfassenden Verdachts. Hier spielten einander Geheimdienste, Künstler und Terroristen wechselseitig zu. Erst die Manie des Verdachts, die für das Verschwörungszeitalter charakteristisch sei, hätte ein so „singuläres“ Ereignis wie die Zerstörung der Türme des World Trade Centers zu einem globalen machen können. Im Grund sei gerade das Manische das globale Ereignis – jenes Manische, das wir als Verschwörung mit derart singulärem Ziel betrachten, wie es diese Angriffe waren. In diesem Punkt unterscheidet sich Groys von den übrigen Philosophen, die in den Terroranschlägen ein wenn nicht epochales, so doch zumindest für die globalisierte Menschheit höchst bedeutsames Ereignis erblicken.
Groys’ Prophezeiung vom Anwachsen der Verbote und einem „Zustand der permanenten Unsicherheit“ ähnelt daher vom Zungenschlag her dem, was die anderen Autoren schreiben (so prophezeit Paul Virilio die Wiederkehr des „Feudalismus“). Der Ausweg aus der Krise auf den Pfaden des Polizeistaates wird allmählich als neue Bedrohung wahrgenommen. Die Explosionen zeigten, wie die amerikanische Philosophin Susan Buck-Morss annimmt, nicht nur die Verletzlichkeit der Bürger der einzigen Supermacht auf ihrem eigenen Territorium, sondern zogen den Mythos von der amerikanischen „Unschuld“ in Zweifel. Gerade in diesem Moment gelte es, wie sie schreibt, für die Amerikaner, darüber nachzudenken, dass während des Ersten Golfkrieges fünf Prozent der irakischen Bevölkerung umgekommen sei, dass Israel die Palästinenser ihrer Bürgerrechte beraube, und über vieles andere, zu dessen Verdrängung das Wort „Unschuld“ erfunden worden sei. Die Herausforderung gelte der globalen Dominanz des Kapitalismus, für den die Zwillingstürme des World Trade Centers ein Symbol waren. Die Globalisierungsrhetorik sei, wie die Explosionen gezeigt hätten, eine Realität geworden – und zwar beileibe nicht in dem Sinne, in dem die Prediger der Globalisierung sie prophezeit hätten; die Welt sei nicht mehr, sondern weniger vorhersagbar geworden.
Die Kehrseite der konventionellen Reaktion auf die unkonventionelle Herausforderung des Terrors sei eine „Amnestie“ für eine Vielzahl von Akten von Staatsterrorismus in der ganzen Welt, begangen unter anderem auch von den amerikanischen Geheimdiensten. Für einen Augenblick sei die Welt angesichts einer Bedrohung, deren Natur allerdings niemand zu bestimmen vermochte, verdächtig einmütig geworden.
Buck-Morss ruft dazu auf, zwei Amerikas zu sehen – einerseits die republikanische Demokratie, welche die Rechte der Bürger und ihre Gleichheit vor dem Gesetz verteidige; und andererseits einen „national security state“, der eine „wilde Zone der Macht“ erzeuge, die sich im Ausnahmezustand befinde und in seiner Existenz zur Gänze von einem äußeren Feindbild abhänge. Eben diese Tatsache habe Bin Laden und die Taliban, die man jetzt zu zerschlagen strebe, erst hervorgebracht. Die Praktiken dieses Staates seien totalitär; in seinen Handlungen lasse dieser sich von zweierlei Maß leiten. Das erste Amerika zu verteidigen bedeute, gegen das zweite aufzutreten. Die Terroranschläge hätten unzweideutig gezeigt, dass die Massenmedien weniger neutral über einen Konflikt berichteetn, als dass sie eine deterritorialisierte Waffe darstellten, welche von beiden Konfliktparteien eingesetzt werde. Das Bestreben, die Freiheit der Berichterstattung in den Massenmedien und andere Freiheiten einzuschränken, sei mit der ungeheuren Mobilität des Kapitals in der heutigen Welt unvereinbar und berge das Risiko von Kapitalabfluss aus Amerika. Die nächste Stufe der Globalisierung werde womöglich nicht mehr mit „Amerikanisierung“ synonym sein.
Erstmals wurde auch der Vergleich der Terroranschläge mit den Strategien moderner Kunst möglich. Dabei hören diese Terroranschläge nicht auf, monströse Verbrechen darzustellen; durch sie wird Zerstörung schlicht zum Werkzeug einer schweigenden, anonymen und derart wirkmächtigen Affirmation, dass sie grundsätzlich nicht zu entziffern ist (sie macht jede Interpretation unmöglich). In dekonstruktivem Geiste merkt Jacques Derrida an, dass auch diesmal der Überfluss an Affirmation seinen eigenen Folgen nicht gewachsen wäre; dadurch trete de facto etwas anderes auf den Plan, etwas, das wir erst noch verstehen müssten, wofür wir über keine fertige Erfahrung verfügen. Im Gegensatz dazu sieht Baudrillard das Besondere an den Terroranschlägen vom 11. September darin, dass diese gänzlich undenkbar seien: Das durch sie wiedergeborene symbolische Prinzip bleibe innerhalb des Systems des universellen Tauschs undenkbar, undarstellbar und unerträglich. Und auch Žižek, selbst wenn er sich pro forma mit Derrida solidarisiert, überschreitet die Grenzen der Dekonstruktion, wenn er die „unendliche Gerechtigkeit“ als Rückkehr der digitalisierten Welt in die Wüste eines Realen beschreibt, welches diese Welt nicht selbst geschaffen habe. Was Derrida zufolge in ferner Zukunft erst noch gedacht werden muss, wird von Žižek eingeführt als etwas, das schon jetzt entschlüsselbaren Inhalt und Faktizität besitzt. Noch anschaulicher – nämlich als Weiterentwicklung der „globalen Öffentlichkeitssphäre“ – sieht Buck-Morss den Ausweg aus der Krise. Groys hingegen kann im Geschehen vom 11. September nichts prinzipiell Neues erblicken; dieses bilde einen Teil der Logik der Verschwörung, mit der die Gegenwartskultur von oben bis unten durchdrungen sei.
So gelingt es in der neuen traumatischen Lage nur dem Gründungsvater der Dekonstruktion, der Versuchung einer starken These standzuhalten und mehr Fragezeichen zu setzen als alle anderen Philosophen zusammen genommen. In den Positionen der übrigen Philosophen sind Elemente von Destruktion enthalten; wobei das vom Bumerangeffekt Zerstörte in Form immer stärkerer und unkontrollierbarer Behauptungen wiederkehrt.
Žižek eröffnet seinen Text über die Ereignisse vom 11. September mit der Behauptung, das 20. Jahrhundert sei buchstäblich von einer „Passion für das Reale“ besessen gewesen, dessen Unfassbarkeit es zu immer gewalttätigeren Handlungen provoziert habe. Er führt als Beispiel die Anklagen auf den Schauprozessen der Stalinzeit an, deren Absurdität paradoxer Weise die Aktionen des Realen unterstützt habe („Brutalität diente als eine Art ontologischer Beweis, der belegen sollte, dass man es mit dem Realen zu tun hätte“). Während die Passion für das Reale sich zum reinen Schein eines politischen Theaters der Grausamkeit verkehrt habe, gipfelte die postmoderne „Passion für den Schein“ im Gegensatz dazu in so etwas wie einer „Rückkehr zum Realen“. Die Realität selbst aber nähme Züge einer Fälschung von Realität an; daher seien die Terroranschläge vor allem Bilder von Terroranschlägen. Man habe uns, so fährt er fort, in die „Wüste des Realen“ geladen, wir aber hätten darin bloß Klischees aus Blockbuster-Filmen aus Hollywood zu sehen vermocht. Mithin sei nicht die Realität ins Bild eingegangen, sondern das Bild in unsere Realität und habe diese in ihren Grundfesten erschüttert. Wenn man das Zeigen von Katastrophen-Filmen verbiete, wolle man uns das Recht auf die Frage nehmen, wo wir das alles schon einmal gesehen haben. Warum ähnelt die Realität ihrem eigenen Bild so sehr? Wenn wir trotzdem versuchten, diese Fragen zu beantworten, so verstünden wir, dass das Undarstellbare, das Äußere, die Dritte Welt – wir selbst seien. Der slowenische Philosoph nennt eben dies eine „Hegelsche Lektion“. Amerika bezahle dafür, dass es versucht habe zu privatisieren, was es selbst in heuchlerischer Manier für universell deklariert hatte. Im Grund sei nur der künstliche Bildschirm zerborsten, mit dem sich Amerika von der übrigen Welt abgrenzte. Susan Buck-Morss nennt so etwas Usurpation der „globalen Öffentlichkeit“ durch eine einzelne Nation.
Rortys Blickwinkel scheint bloß auf den ersten Blick mit der offiziellen amerikanischen Lesart überein zu stimmen. Eigentlich aber birgt er Sprengstoff; er spricht nämlich direkt aus, was die amerikanische Staatsmacht voraussetzt, auf rhetorischer Ebene aber vertuscht. Rorty expliziert von der offiziellen Politik stillschweigend gemachte, aber nicht verbalisierte Annahmen: Wir, die Vertreter der freien Welt, hätten von den Ländern der Dritten Welt nichts zu lernen; unser Lebensstandard hänge von ihren natürlichen Ressourcen ab, weshalb die Umwelt dem Untergang geweiht sei; jemand müsse die Rolle des Weltpolizisten übernehmen usw. In toto hat der Diskurs des Philosophen den Vorzug der Aufrichtigkeit. Sie betrügt ihn nur ein einziges Mal – als Rorty den Kampf Martin Luther Kings für die Rechte der Afro-Amerikaner mit der Verteidigung der „Erniedrigten und Beleidigten“ in den Ländern der Dritten Welt gleichsetzt. Schließlich hilft der Westen – wenn man einmal auf Rortys Position „reaktionärer Aufrichtigkeit“ beharrt – nicht nur den Ländern der von deren dieser Not.
Während die Präsenz der Dritten Welt in Rortys Argumentation mehr als deutlich ist und Žižek und Buck-Morss unablässig daran erinnern, dass der Schock, den Amerika erfahren hat, damit zusammenhängt, dass ein riesiges Stück Dritte Welt („die Wüste des Realen“, das Objekt der Ausbeutung) ins Innerste des globalen Kapitalismus selbst eingedrungen ist, spielt die Konfrontation von Erster und Dritter Welt für Baudrillard und Groys keine wesentliche Rolle. Die „Antikörper“ des Terrors durchdrängen alles; die Netze der Verschwörung würden überall geflochten; es gebe keine „privilegierte“ Konfrontation, von der alles Übrige abhinge. Derridas Position zeichnet sich durch militante Neutralität aus, die Rortysche ist rechts, die von Žižek und Buck-Morss links; Baudrillard und Groys verorten sich jenseits der Grenzen des Politischen, das sie für fiktiv erklären (nicht von ungefähr beschließt Baudrillard seinen Essay mit den Worten: „Krieg als die Fortsetzung der Abwesenheit von Politik mit anderen Mitteln“ (14); und Groys erblickt in den Terroranschlägen lediglich einen Seitenstrang der zeitgenössischen Kunst). Den Ort des Politischen besetzt bei ihnen das Bild; in Buck-Morss’ Terminologie wären sie „visuelle Fundamentalisten“.
Paul Virilio sieht in den Ereignissen des 11. September vor allem den „Krach der Netz-Strategie“ des Pentagons und den Beginn eines „akzidentiellen Kriegs“, der mit einem Krieg im herkömmlichen Wortsinn wenig gemein haben werde. Die Menschheit kenne Krieg zwischen Staaten und Bürgerkriege, mit einem „akzidentiellen Krieg“ aber sehe sie sich zum ersten Mal konfrontiert. Hier macht Virilio einen für ihn untypischen dekonstruktiven Schachzug, wenn er die neue Art Krieg mit einer „Fremdsprache“ vergleicht, die wir noch „lernen“ müssten. Leider entwickelt er diesen Gedanken, anders als Derrida, nicht weiter und belässt es bei dieser isolierten Metapher. Besonders gefährlich an der neuen Lage ist, wenn man Virilio glauben darf, die völlige Unbestimmtheit (darüber schreiben auch Baudrillard, Groys und Žižek), die womöglich einem Weltkrieg den Weg bereite. Die einzig aussichtsreiche Strategie angesichts der „terroristischen Maßlosigkeit“ wäre nach Virilio die „Repolitisierung des Kriegs“, d.h. die Rückkehr zum vormaligen Zustand, als es noch Verhandlungspartner gab, klare Kriegsdoktrinen und Weiteres mehr. Allein – es fällt schwer, im Lichte der Diagnose, welche der französische Theoretiker selbst stellt, an die Realisierbarkeit dieser Utopie zu glauben – im Lichte der Diagnose von der Niederlage des Pentagons und des dahinter stehenden militärisch-industriellen und Forschungskomplexes, des Beginns eines „akzidentiellen Kriegs“ mit unvorhersehbaren Folgen und der Tatsache, dass sich die Terroristen beim Festhalten an der Ausrichtung auf das totale Opfer völlig neuer technologischer Mittel bedienten. Als Reaktion auf die gänzlich neue Art Terror müsse man, so befürchtet Virilio, die „Rückkehr des Polizeistaates“ und zunehmende „Superüberwachung“ in den Städten der Zukunft erwarten. Eine Prophezeiung, mit der er selbstverständlich nicht allein steht.
Gut fügt sich in dieses allgemeine Bild auch die Bemerkung des Begründers der Dromologie (der Wissenschaft von der Geschwindigkeit) darüber, dass der Terror immer schon auf die Massenmedien bezogen gewesen sei und dass das Gebiet, auf dem immer „unvorstellbarere“ Ereignisse stattfinden würden, der Fernsehbildschirm und das Computer-Display sein würden.
Um ermessen zu können, für wie ausweglos Virilio die Situation nach dem 11. September hält, hier nur ein Zitat: „[...] dieses Attentat stellt für den Weltfrieden eine genauso große Bedrohung dar wie das Attentat von Sarajevo im Jahre 1914 für den Frieden in Europa.“ (5). Dieser Vergleich schlägt dieselbe Saite an wie Baudrillards Gedanke, dass der 11. September den Vierten Weltkrieg einläute, den ersten Krieg der Epoche der Globalisierung, deren Logik der Logik aller vorangegangenen Weltkriege nicht ähneln werde, auch der des Kalten Krieges nicht.
Weniger apokalyptisch, obgleich ebenfalls ziemlich pessimistisch, klingen die Schlussfolgerungen von Rorty, Žižek, Groys und Buck-Morss. Bei allem Auseinanderklaffen der Ansichten über die Terroranschläge bildet doch die Erwartung von etwas noch Schlimmerem die dominierende Grundstimmung – mehr Verbote und Unsicherheit, verschärfte Krise demokratischer Werte, geringere Mobilität von Kapital mit verheerenden Folgen für den Wohlstand des Westens). Je tiefer sich diese Ereignisse in die allgemeine Entwicklungslogik der postindustriellen Gesellschaften eingraben, umso unerfreulicher nehmen sich die sich daraus ergebenden Folgen aus. Auch wenn das Ereignis selbst „singulär“ (Groys) ist, werden doch die Folgen, die dieses nach sich zieht, nichtsdestotrotz unabsehbar sein (und selbstredend mit den Folgen des Anschauens von Horrorfilmen aus Hollywood und Ausstellungen selbst der avanciertesten radikalen Kunst nicht vergleichbar sein). Das aber legt den Gedanken nahe, dass Philosophen, die solche Parallelen ziehen, das Ausmaß des Geschehenen vor sich selbst noch verbergen, und dass man darüber bislang nur anhand der unvorhersagbaren Folgen urteilen kann, die nicht mit der Einschätzung der Terroranschläge selbst in Einklang zu bringen sind (als ob die sich dazu erkühnenden Intellektuellen die Ereignisse selbst bloß „ästhetisierten“, aber vergäßen, dasselbe auch mit den Folgen der Ereignisse zu tun).

Literatur:
Jean Baudrillard, L’esprit du terrorisme. Dt. zit. n.: Der Geist des Terrorismus. Herausforderung des Systems durch die symbolische Gabe des Todes, in: Lettre International 55 (2001), 11-14.
Susan Buck-Morss, A Global Public Sphere, in: Radical Philosophy 111 (January/February 2002), 2-10.
Jacques Derrida, La langue de l’étranger. Dt. zit. n.: Die Sprache des Fremden und das Räubern am Wege, in: Le Monde diplomatique, 11.01.2002.
Boris Groys, „Religion spielt hier überhaupt keine Rolle“, in: Tagesszeitung 17.10.2001, 14.
Richard Rorty e.a., Die Umwelt ist nicht zu retten. Krieg und Frieden und der Westen. Der Philosoph Richard Rorty steht im Streitraum der Berliner Schaubühne Rede und Antwort, in: Süddeutsche Zeitung, 20.11.2001, 15.
Paul Virilio, Vom Terror zur Apokalypse? Der erste Krieg der Globalisierung und der Krach der Netzstrategie, in: Lettre International 54 (2001), 5-7.
Slavoj Žižek, Welcome to the Desert of the Real!, kürzere deutsche Fassung: Willkommen in der Wüste des Realen, in: Die Zeit 20.09.2001, 48; engl. in: The Symptom. Online Journal for Lacan.com; http://lacan.com/desertsym.htm, Download 02.01.2004.

Moskau, 1.-11. Februar 2002
Aus dem Russischen übertragen von Elena und Dirk Uffelmann

Vortrag gehalten am 10. Januar 2004 in der Akademie der Künste, Berlin, anlässlich der Veranstaltung "Heiner Müller 75. Explosion of A Memory".

© Christopher Martin

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