HEINER MÜLLER SPRECHEN. abstracts
Anton Bierl (Basel)
Die griechische Tragödie aus der Perspektive von Prä– und Postdramatik.
Choralität, Performativität und rituell–ikonische Poetik in den Persern des Aischylos
Im sechsten und frühen fünften Jahrhundert v. Chr. hat sich die Tragödie von einfacheren rituellen und chorisch geprägten Anfängen schnell zu dramatischeren Formen entwickelt, die bereits zum Teil Sophokles und Euripides auszeichnen. Das Prädramatische des Aischylos, die weniger entwickelte Handlung, die Dominanz des Chorischen, sowie die wuchtige poetisch-musikalische und bildhafte Sprache, wird zum Teil auch aus der aktuellen Retheatralisierung der anspruchsvollen Bühne begreiflich. Und nicht von ungefähr war Heiner Müller von diesem Stück besonders begeistert. Im Vortrag versuche ich am Beispiel der "Perser" Hans–Thies–Lehmanns These aus gräzistischer Sicht nachzugehen, dass das Prädramatische gewissermaßen seinen Aufschluß im Postdramatischen finden kann.
In der ersten ganz erhaltenen Tragödie (472 v. Chr.) haben wir ein Theater vor uns, das sich weniger über psychologisch nachvollziehbare Aktion von Charakteren als über eine chorische Handlung der Ritualität und der Performativität definiert. Obwohl die Perser Zeitgeschichte zum Stoff haben, nämlich die Niederlage des Perserkönigs Xerxes bei Salamis, überträgt Aischylos diese auf eine tragische mythisch–religiöse Matrix, die auch sonst für alle anderen mythischen Stücke üblich ist. Die Perser sind von Figuren bestimmt, die den Ablaufgesetzen von Ritualsequenzen und –erwartungen folgen. Dieses Drama setzt Rituale und Einzelbilder in eine Inszenierung um, die mimetisch Leid erfahrbar und ertragbar macht. Selbst kontingente kriegerische Zeitgeschichte wird in den Kategorien des tragischen Mythos und eines religiösen Zeus– und Dike–Glaubens in polyphoner Perspektivierung als umfassende kollektive Erfahrung mittels Performanz und Bildlichkeit so aufbereitet, dass die versammelte Bürgerschaft daraus lernen kann.
Petra Bolte-Picker (Gießen)
Bewegung als Körperkorsett – Körpersprechen/Textsprechen in ROSAS/TG Stans Inszenierung von Heiner Müllers "Quartett"
Zwischen 1996 und 2000 untersuchte die belgische Choreographin Ann Teresa de Keersmaeker in Inszenierungen wie 'Tippeke' (Kurzfilm 1996), 'Just before' (1997), 'I said I' (1999) und 'In Real Time' (2000) intensiv die Beziehung von Bewegung und Text. Dabei zog sie sowohl lyrische wie dramatische Textvorlagen, aber auch in den Proben erarbeitete Fragmente, Wortfetzen, kleine persönliche Geschichten ihrer Tänzer heran.
1999, wenige Wochen vor der Premiere ihrer bekannten Produktion 'I said I, erarbeitete sie zusammen mit ihrer Schwester Jolente de Keersmaeker, dem Schauspieler Frank Vercruyssen (beide Mitglieder der Gruppe T.G. Stan) und der Tänzerin Cynthia Loemij (ROSAS) Heiner Müllers „Quartett“ – ein theatrales Spiel beginnt, das die in den angrenzenden Inszenierungen aufgeworfenen Fragestellungen gleichsam sensibel zu konzentrieren vermag.
Bewegung als Körperkorsett – Körpersprechen/Textsprechen: ein Spannungsfeld öffnet sich zwischen der durch Bewegung gezügelten Stimme und der den Raum erfüllenden tänzerischen Geste.
Wie wird der Körper innerhalb dieses Spannungsfeldes befragt? Welcher Körper der Stimme generiert und welcher Körper im Text beschrieben? Was geschieht, wenn die Tänzerin und der Schauspieler den Text von Heiner Müller gleichermaßen artikulieren? Und vor allem: welche Arbeit am Wort/Text und am vokalisierten Körper schlägt die Choreographie vor, wenn Heiner Müllers „Quartett“ nicht in deutscher Sprache, sondern in flämisch-niederländischer Übersetzung auf die Bühne gebracht wird?
Diesen und anderen Fragen werden anhand inszenierungs- und bewegungsanalytischer Strategien nachgespürt.
Kai Bremer (Münster)
„Vor dem Leib die Predigt.“
Dramatischer Text und performativer Widerspruch in Müllers Produktionsstücken
Ausgangspunkt des Beitrags ist folgende Frage: Wie sprechen Müllers Figuren in dem Teil seiner Dramatik, der konventionelle Figurenrede in Kombination mit traditionellem Handlungsgefüge kennt? Konkret: Wie sprechen die Figuren der Produktionsstücke? Und welche Implikationen lassen sich aus diesem Sprechen für Müllers weitere Dramatik ablesen? Im Zentrum der Überlegungen werden 'Der Lohndrücker''Die Bauern' und 'Der Bau' stehen. Zu diesen Fragen gaben zwei aufeinander aufbauende Beobachtungen den Anlass:
1. In der Beschäftigung mit Müllers Dramatik findet seine frühe Dramatik kaum mehr Berücksichtigung. Das liegt daran, dass seine Stücke seit Ende der 60er Jahre zu sehr als Innovationen verstanden werden. Mir geht es im Unterschied zu dieser Einschätzung darum, stärker die Kontinuitäten innerhalb seines Werkes zu betonen. Das gelingt nur, wenn die Produktionsstücke formal und strukturell begriffen werden.
2. Die weitgehende Nicht-Berücksichtigung der Produktionsstücke hat dazu geführt, dass Müllers Dramatik gattungspoetisch und geschichtsphilosophisch in erster Linie auf die Tragödie bezogen wird - hinzutritt punktuell die Perspektivierungen auf die Farce. Der Komödie bzw. dem Komischen bei Müller wird weit weniger Aufmerksamkeit geschenkt.
Vor dem Hintergrund dieser Überlegungen ergibt sich folgender Aufbau für den Beitrag:
Zunächst sollen komische Figurenrede und komische Struktur von Müllers Produktionsstücken knapp vorgestellt werden. Dabei wird sich zeigen, dass das zeitgenössische Skandalpotential der 'Umsiedlerin' in erster Linie daraus resultierte, dass Müller in diesem Stück den sozialistischen Primat der Lehre gegenüber der Unterhaltung, den er selbst eben hier auf die prägnante Formel „Vor dem Leib die Predigt.“ gebracht hat, unterläuft. Es soll gezeigt werden, dass die Umsiedlerin nicht nur auf der Ebene der Figurenrede von performativen Widersprüchen geprägt ist. Das Stück ist vielmehr selbst als ein umfassender performativer Widerspruch gegen die dramatische Praxis zu begreifen. Diese Widerspruchsdynamik soll abschließend auf 'Zement' bezogen und zu den dort erstmals integrierten Tableaux in Relation gesetzt werden, um eine Dimension ihrer Sprachlichkeit darzustellen, die sich nur ergibt, wenn man sie im werkgenetischen Kontext betrachtet.
Jörn Etzold (Frankfurt/M.)
Arbeit/Sprechen
Überlegungen zu "Mauser"
Müllers 'Mauser' eröffnet, wie man weiß, die Szene einer Exekution. Also: einer Ausführung. Was wird ausgeführt? Eindeutig: die Arbeit: „A: Ich habe meine Arbeit getan. / CHOR: Tu Deine letzte.“ Töten ist Arbeit; die Einwilligung in den eigenen Tod aber ist – diese Idee verhandelt schon Brecht in der „Maßnahme“ – die höchste Arbeit für die Revolution.
Diese Idee geht vor allem auf Hegel zurück, und sie ist eine säkularisiert christologische Idee: In der Phänomenologie des Geistes bezeichnet Hegel den Tod als „die Vollendung und höchste Arbeit, welche das Individuum als solches für es (sc. das sittliche Gemeinwesen) übernimmt.“ Denn nur durch den Tod der Einzelwesen kommt der Begriff zum Begreifen seiner selbst. Wenn wir aber erkennen, daß unser je singulärer Tod der vernünftigen Teleologie der Geschichte dient, dann können wir in ihn einwilligen. Dann gelingt es der Philosophie, „das Tote festzuhalten“ und uns mit dem Tod zu versöhnen. Der Tod, von Hegel als „jene Unwirklichkeit“ bezeichnet, kann hingenommen werden, weil eine Erzählung der Weltgeschichte, einer gefügten Geschichte mit Anfang, Mittelteil und Ende, ihm einen Sinn verleiht. Einer Erzählung, die, wie man weiß, zum „absoluten Wissen“ führt, das den Tod in sich einschließt, indem es ihn begreift, um seine Notwendigkeit weiß.
Die „Arbeit des Negativen“ ist diese Geschichte. Sie ist Arbeit, die Sinn erzeugt, indem sie tötet, auslöscht, vernichtet, bis sie endlich jenen telos erreicht hat, in dem der Begriff „die Zeit tilgt“: das absolute Wissen. Jacques Derrida hat aufgezeigt, wie Hegel dieses Narrativ der Arbeit des Negativen bemüht, um die Angst vor dem Tod zu verstellen und einzuhegen; und er hat Batailles Gelächter über diese Operation hörbar gemacht, das in Batailles Idee einer „beschäftigungslosen Negativität“ („négativité sans emploi“) nachklingt; kurz, einer Negativität, die eben nicht arbeitet.
Wie ich an anderer Stelle zu zeigen versucht habe (s. Reader), schleicht dieses Narrativ Hegels mit schwerwiegenden Folgen in das Denken seines Erben Marx ein. Dort führt es dazu, daß die „Revolution“ von einer offenen, unabschließbaren „Praxis“, die ihre Poesie „nur aus der Zukunft ziehen“ kann – aus dem, wovon nichts gewußt wird, was sich jeder Darstellbarkeit und Vorstellbarkeit entzieht – zur Exekution von etwas immer schon Gewusstem wird: der historischen Notwendigkeit nämlich, die die Dialektik als wissenschaftliches Prinzip beglaubigt. Und auch bei Marx steht im Zentrum dieser Auseinandersetzung der Begriff der Arbeit. Während das „Proletariat“ in der Deutschen Ideologie in seiner neuen „Praxis“ „die Arbeit abschafft“, fordert das Manifest der Kommunistischen Partei schon „gleiche[n[ Arbeitszwang für alle“ und später – weniger bei Marx als im „Marxismus“ – wird es darum gehen, das vom wissenschaftlichen Wissen gewusste Ziel der Arbeit zu erreichen, indem man das Widerständige „wegarbeitet“. Diese eine Arbeit arbeitet bei Müller auch die „Spuren ihrer verschiedenen Arbeit“ weg, die an den Händen der exekutierten Bauern noch an die alte, partikulare Feudalordnung erinnern. Töten ist Arbeit als allgemeine Wissenschaft, Wissenschaft als allgemeine Arbeit: „Sondern das Töten ist eine Wissenschaft Und muß gelernt werden, damit es aufhört.“
Doch es hört nicht auf. Die Arbeit kommt nie zu Ende, das Wissen wird nie absolut. Schon die Bemerkung Hegels, die „wissenschaftliche Erkenntnis“ erfordere, „die innere Notwendigkeit [...] auszusprechen“ zeigt, wie er von der Erkenntnis heimgesucht wird, dass der „Begriff“ immer noch an etwas gebunden bleibt, das nicht verschwindet, sich nicht im Geist aufhebt, nicht vollends „begriffen“ und somit auch nicht vollständig „weggearbeitet“ werden kann: Es ist eben das Aussprechen selbst und in ihm die insistierende Materialität der Sprache, der in ihr Aussprechen notwenig eingeschriebene Umweg.
Meine These nun ist: Was Müller gegen die Arbeit des Tötens, das homogenisierende Todeswerk im Namen der historischen Notwendigkeit ins Spiel bringt, ist eben das Sprechen und Aussprechen selbst. In 'Mauser' kehrt die scheinbar erledigte Arbeit, die ausgeführte Exekution, zurück – nicht als „Erinnerung“, die harmonisch in die Sinn erarbeitende Geschichte eingeht, sondern als Trauma, das sich immer und immer wieder aussprechen muss, und dennoch keinen Sinn ergibt, in keinem Begriff aufgeht, in keinem harmonischen Ton verklingt; ein Trauma, das durch das Sprechen nicht geheilt, sondern eben nur immer wieder ausgesprochen, angesprochen werden kann. Das Sprechen läßt die Arbeit aussetzen, verzögert sie unabsehbar, hemmt sie; aber lässt eben dadurch in der Singularität der Artikulation jene „Poesie“ sichtbar werden, die stets „nur aus der Zukunft“ kommen kann: die Poesie der Revolution.
Helga Finter (Straßburg)
Mit den Ohren sprechen
Dichter schreiben nicht nur mit den Ohren, auch sprechen sie vom inneren Ohr geleitet. Als Schriftsteller unterscheiden sie sich von Schreibern nicht nur durch ein nicht-instrumentelles Verhältnis zur Sprache sondern auch zur Stimme.
Die Spannweite von Heiner Müllers Verhältnis zur Stimme der Schrift sei paradigmatisch mit zwei Zitaten angedeutet – aus einer Anweisung zur Lektüre bzw. aus Überlegungen zu einer Operninszenierung -, die Äußerungen zur Lektüre des Prometheus bzw. zur Inszenierung von Richard Wagners Tristan und Isolde entstammen:
- „Der PROMETHEUS-Text ist nicht Wort für Wort lesbar, außer man liest ihn laut. Er besteht, wie jeder Sprechtext, aus Sätzen, nicht aus Wörtern“ (Werke 4, Stücke 2, 45).
- „Was man noch nicht sagen kann, kann man vielleicht schon singen“ („Sechs Punkte zur Oper“, Theater-Arbeit, 117).
Zwischen diesen beiden Polen reiner Diktion bzw. reinen Gesangs spannt sich das Feld, das unter dem Aspekt des Verhältnisses von Text und Stimme zu skizzieren ist. Dabei sollen Möglichkeiten des Sprechens von (poetischen) Texten ausgehend von der Frage nach der Stimme des Textes/ der Dichtung zur Debatte stehen.
Heiner Müllers charakteristische (Vor-)Lesestimme ist im Kontext exemplarischer Dichterlektüren des 20.Jahrhunderts wie auch des Kontextes extremer (politischer) Stimmen zu betrachten, um an ihr die Implikationen einer solchen auf den Nullpunkt abzielenden Diktion herauszuarbeiten. Weiter sollen dann die Zuordnung von Geste und Textrhythmus (Heiner Goebbels) und die Doppelung der Textrhythmen durch den Kontrapunkt des Sprechrhythmus (Robert Wilson) als Vorformen des Gesangs im Hinblick auf die ihnen zugrunde liegenden Sprachökonomie wie Ethik des gesprochenen Wortes hinterfragt werden.
Heiner Goebbels (Frankfurt/M.)
Heiner Müller versprechen / Heiner Müller hören
Beim Hören erschließt sich das Verständnis seiner Texte durch die Korrektur. Kaum ein Satz bleibt das, was er zunächst zu werden vorgibt. Diese Erfahrung kann man nicht nur mit dem Hörstück „Verkommenes Ufer" machen, wenn sich die Passanten beim unvorbereiteten Lesen immer wieder ‚versprechen'. (Wenn beispielsweise mit der Stimme einer alten Berlinerin im Bild von den „zerrissenen Monatsbinden" plötzlich die „Monarchie" aufscheint, oder wenn im Hörstück „Landschaft mit Argonauten" sich die Einwanderer Bostons schwertun mit der Aussprache von „Boetien", aus dem doch ihr „Großvater" abstammt.)
Aus der Differenz der gehörten Stimmen zum geschriebenen Text öffnen sich zusätzliche Schichten. Heiner Müller betrieb auch beim Vorlesen seiner Texte systematisch eine ‚Demilitarisierung der Sprache', indem er die Interpunktion akustisch kaum wahrnehmbar macht - als Aufforderung an den Hörer, über die Syntax selbst zu entscheiden und dabei andere Satzkonstruktionen und Sinneinheiten auszuloten.
Den Texten diese Offenheit nicht zu nehmen, das sollten wir ‚versprechen'.
Ulrike Haß (Bochum)
Polyphones Sprechen in Dimiter Gotscheffs Inszenierung "Die Perser"
Margit Bendokat spricht in Gotscheffs 'Die Perser' den Chor, mit dem Rücken zum Objekt der ‚Wand’, die hier einem schweigenden Wächter gleicht. Davor bewegt sich Bendokat, die lange Aufzählung der Helden Persiens, ihre fremden Namen wie Grabmale aus der Sprache scharrend, leicht gebeugt, mit geballten Fäusten gegen die Fläche des Bodens sprechend, auf uns zu. Nicht zu sehr, denn sie trägt die Fremdheit der Sprache aus. Nicht nur die Fremdheit dieses ältesten abendländischen Theatertextes, sondern diejenige jeglicher Sprache in ihrem Aufnahmezustand, ihrer Schrift. Ihr befremdliches Schweigen teilt die Schrift mit den Objekten. Das Objekt der ‚Wand’ stellt ihr Schweigen aus, während sie, Margit Bendokat, doch spricht: Sprechen-Lesen auf einem Totenacker.
Woher kommt die Polyphonie der einzelnen Stimme, wie ist sie zu hören?
Günther Heeg, Sophie Witt, Michael Lohmann (Leipzig)
der auftrag: fatzer. eine text-klang-raum-recherche
projekt mit studierenden der theater- und musikwissenschaft an der universität leipzig
im fokus des projektes steht die begegnung mit ineinandergeschnittenen und ineinanderverstrickten textmengen aus brechts fatzer und müllers der auftrag. erinnerung an eine revolution. absicht ist es, auf verschiedenen ebenen die thematischen spiegelungen von desertion/revolution/verrat zu übersetzen in die erfahrung von ‚jetztzeit’.
dabei bilden die drei themenspektren „falsche gegend“ (bewegung im unbekannten raum), „furchtzentrum geschlechterspannung“ (konstellationen des anderen) und „raumzeit“ (einstand der geschichte) zentrale bewegungsrichtungen und mögliche scharniere für die ineinanderverschränkung von brecht und müller.
in der erkundung der texte soll versucht werden, die verschiedenen, auch widersprüchlichen bewegungslinien bestehenzulassen und die widerständigkeit des textes produktiv erfahrbar zu machen. ausgangspunkt ist dabei ein konzept des text/körpers, das es ermöglicht, sprechend der spur des körpers im text nachzugehen und die bewegung der auseinandersetzung zwischen symbolischer ordnung und singulärer motilität und artikulation wiederzuholen im raum. methodisch leitend bei dieser ästhetisch-politischen recherche ist die ‚trennung der elemente’ von sprache, bewegung/geste, raum und klang in unterschiedlichen arbeitsgruppen. die zeit- und material-schichten, die dabei entstehen, ermöglichen konstellationen von raumzeit, in denen das vergangene ‚präsent’ wiederkehrt.
Romain Jobez (Poitiers)
Müllers prädramatisches Theater: Anatomie Titus Fall Of Rome
Dimiter Gottschefs Inszenierung von 'Anatomie Titus Fall Of Rome' 2007 am Deutschen Theater in Berlin hat einen eher selten gespielten Text von Müller wieder in Erinnerung gebracht. Die negative Bewertung des zum Teil ins Groteske abdriftenden Schauspiels erinnert stark an die Kommentare nach der Bochumer Uraufführung 1978, die im Stück eine lächerliche Karikatur von Shakespeares Tragödie sahen. Letzteres nimmt bekanntlich einen besonderen Platz in seine Produktion ein, weil ihre blutrünstige Handlung sie vom Rest des Werkes scharf unterscheidet. Erst die Rückbesinnung auf den barocken Kontext und die Befreiung Shakespeares von seiner in der Klassik verankerten Rezeption könnte Titus Andronicus wieder lesbar, wenn nicht aufführbar machen. Es scheint also, als hätte Müller mit seinem Stück ein Verständnis von elisabethanischem Theater entwickelt, das den englischen Dramaturg wieder mit der tatsächlichen Aufführungspraxis in seiner Zeit zusammenführt. In meinen Augen als Theaterhistoriker mit besonderem Interesse für die frühneuzeitliche Bühne hat der Shakespearekommentar den Bogen zwischen dem „prädramatischen“ Theater und dem „postdramatischen“ Theater gespannt. Ausgeklammert bleibt der dramatische Einklang zwischen Subjekt und Handlung, der das Werk Shakespeares in seinem ideellen Verständnis bezeichnet, an seine Stelle tritt die Körperlichkeit mit ihren Widersprüchen auf, dem Müllers Theater auch zugrunde liegt. Ein Détour über die deutsche Wanderbühnenfassung von Titus Andronicus, der den dramatischen Stoff von seinem zweckengebundenen moral-theologischen Weltbild endgültig befreit, wird Anatomie Titus als Barockdrama in dem Übergang von Text zur Bühne nachvollziehbar machen.
Jean Jourdheuil (Paris)
Dramaturgie des Hörens -- Quartett und Cosi fan tutte
Ich werde in meinem Vortrag die Lesung von 'Quartett' durch Sami Frey und Jeanne Moreau zu beschreiben versuchen.
Und versuchen, dabei das Hören zu problematisieren. Eine Radiographie des Hörens in diesem Fall, die Wahrnehmung eines zweischichtiges Hörens:
1) was das Publikum hört,
2) wie das Publikum imstande sein kann, sich das Hören des Deuteragonisten vorzustellen.
Und wie sich dabei das Verständnis ändert. (Entendre, auf französisch, heisst sowohl hören als verstehen).
Sebastian Kirsch (Berlin)
Amtsschimmel und Sprechmaschine
Ich möchte von einer kleinen, viertelstündigen Aufführung ausgehen, die ein befreundeter Berliner Regiestudent, Johannes Schmit, 2006 mit dem Schauspielstudenten Stefan Stern entwickelte, eine siebenwöchige, intensive Arbeit an „Wolokolamsker Chaussee IV“, den „Kentauren“.
Im Zentrum dieser „Arbeit im Interesse der öffentlichen Unordnung“ stand die Beschäftigung mit dem Sprechen, den Rhythmen der Müller’schen Blankverse, mit ihren Zäsuren, Unterbrechungen, Zeilenumbrüchen; eine Auseinandersetzung, die von Anfang an aufs Engste mit der Erzählebene des Stückes verknüpft war.
In diesem vierten Teil geht es um einen Funktionär, der einem Untergebenen befiehlt, eine Ordnungswidrigkeit zu begehen, da plötzlich eine Situation eingetreten ist, in der alle Systeme funktionieren, alles nach Plan läuft – für den Staat, der zu seinem Erhalt auf Staatsfeinde angewiesen ist, die größtmögliche Katastrophe. Der Untergebene fährt daraufhin bei Rot über die Kreuzung, die staatliche Unordnung ist wiederhergestellt, der Funktionär verwächst mit seinem Schreibtisch zu einer Abart des Kentauren, dem „Amtsschimmel“.
In der Theaterarbeit ging es nun zunächst darum, Schweigen und Sprechen ins Verhältnis zu setzen zu den im Text verhandelten Fragen nach der Dialektik von Ordnung und Ordnungswidrigkeit. Kann man das Schweigen als eine Art „Ausnahmezustand des Sprechens“ betrachten? Und wie ist hier das Verhältnis von Schweigen und Sprechen, Ausnahme und Regel überhaupt zu fassen, wenn man bedenkt, dass im Stück die Ausnahme gerade die Voraussetzung für das Funktionieren der Regel ist? Wenn man versucht, die Rhetoriken und Sprechtechniken, die in der üblichen Schauspielausbildung gelehrt werden, als eine Art nivellierende Maschine kritisch zu sehen, wie verhalten sich dann die Pause, die Zäsur, die Unterbrechung zu diesem Regelwerk? Was wäre bloße „Kunstpause“, was vielleicht ein „anderes“ Schweigen? Und vor allem: Wie kann man verhindern, dass der Sprecher auf der Bühne mit der Sprache verschmilzt wie der Funktionär mit seinem Schreibtisch?
Die Theaterarbeit erwies sich dabei sehr bald als extreme Beschäftigung mit dem Körper des Darstellers, mit der Aufmerksamkeit dieses Körpers. An welcher Stelle Stern in Müllers Verssprache Zäsuren und Pausen setzte, konnte nicht vorgeschrieben werden; es ging vielmehr darum, den richtigen Moment immer wieder neu und in Bezug auf den Raum und das jeweils anwesende oder abwesende Publikum zu finden. Daraus resultierten schließlich vier in Qualität und Intensität sehr verschiedene Aufführungen.
Dabei war die Arbeit in mehrfacher Hinsicht aufschlussreich (abgesehen von ihrer kritischen Funktion innerhalb des rigiden Schulrahmens) und führte zu weiteren offenen Fragen. Beispielsweise erschien uns Müllers Satire zunächst an einem Punkt merkwürdig schwach, dort nämlich, wo die befohlene Ordnungswidrigkeit nichts anderes ist als das Überfahren einer roten Ampel, ein kleiner Verstoß gegen die Straßenverkehrsordnung. Dann aber tat sich die Überlegung auf, dass gerade diese Stelle sich vielleicht ins Verhältnis setzen lässt zu Brechts „Straßenszene“ einerseits, zu einer Szene aus Godards „Le Weekend“ andererseits, in dem an entscheidender Stelle ein schier endloser Stau steht und immer wieder Bilder von Autowracks und blutigen Unfällen die Filmbilder geradezu perforieren (ähnlich wie die von Müller an Godard geschätzten plötzlichen Schwarzbilder, das plötzliche „Schweigen des Films“). Überhaupt erging es uns mit Müller-Texten immer wieder so: Konzentriert man sich auf die Frage, wie sie überhaupt gesprochen werden können, stößt man immer wieder auf Figurationen, die sich plötzlich mit anderen Figurationen seriell zu verketten beginnen, fast wie bei einem Legobaukasten. Wie funktionieren diese Wucherungen genau? Entsprechen sie den von Müller beschworenen „Krebszellen“, die es in den Betrieb einzuschießen gilt? Ist ihre Struktur vielleicht die einer „Selbstähnlichkeit“, wie sie in der barocken Allegorie und genauer: im Denken von Leibniz zu einem bestimmten historischen Zeitpunkt besonders ausgeprägt auftaucht?
Krassimira Kruschkova (Wien)
Heiner Müllers Choreographien „jenseits des Todes“ in Performance der Gegenwart
Die Geschichte der szenischen Gegenwart oszilliert seit jeher schon in der gespenstischen Balance einer „To be or not to be“-Präsenz. Heiner Müllers Hamletmaschine treibt dieses Oszillieren auf die Spitze – bereits im Imperfekt ihres ersten Satzes wie in den folgenden Ver-rückungen und Umstülpungen: „Ich war Hamlet. Ich stand an der Küste und redete mit der Brandung BLABLA, im Rücken die Ruinen von Europa [...] das Gesicht im Nacken: Horatio. Tanzt mit Hamlet.“ Im Rücken: eine Trümmerlandschaft jenseits der Gegenwart von Geschichte(n). Auch „jenseits des Todes“ (Bildbeschreibung). Auch ,,jenseits des „Gespensts der Referentialität“ (Paul de Man), sollte doch das Theater, so Heiner Müller, die Realität verunmöglichen.
Ein Hamlet – oder vielmehr „ein Hamlet weniger“ (Carmelo Bene) – auch in 'The Last Performance' (1998) des französischen Choreographen Jérôme Bel: Dieser Hamlet geht von uns zugleich figurativ und wörtlich: nach seinem „to be“ verlässt er einfach die Bühne, um hinter den Kulissen sein „not to be“ auszusprechen. Die zeitgenössische Performancepraxis buchstabiert, was für Heiner Müller das Spezifische am Theater sei: nicht die live-Präsenz, sondern die Präsenz des potenziell Sterbenden. So verspricht uns eine Performerin in 'Bloody Mess' (2003) der britischen Gruppe Forced Entertainment – in einer höchst buchstäblichen Verdichtung –, dass wir nach der heutigen Aufführung nie mehr aufhören werden zu weinen, weil wir sie vor unseren Augen sterben sehen werden.
Theater entsteht, nach Heiner Müller, zwischen Bühne und Zuschauer, und nicht nur auf der Bühne. So soll der Vortrag versuchen, mit Heiner Müller über die zeitgenössische Szene nachzudenken, über ihr Dazwischen, auch über jene Grenze diesseits/jenseits, die heute immer mehr ins Zentrum des performativen Interesses rückt und zugleich gespenstisch verrückt wird: Ist wohl dieses Inter-esse selbst ein Zwischen-sein.
Hans-Thies Lehmann (Frankfurt/M.)
Tragisches Sprechen/Sprechen des Tragischen
Die "texts for performance" von Sarah Kane stehen in sehr naher Verwandtschaft zu Müllers Schreibweise. In ihnen geht es um das Aussprechen selbst als eine "tragische", also in sich zerissene, in sich gespaltene Realität. - Die Spaltungen , von denen Müllers Texte zeugen, verlangen vom Theater eine Weise des Sprechens, die das Unauflösliche der Konflikte im Theater als eine politische Praxis des "Sprechens" realisieren. Der Vortrag wird diese beiden Überlegungen erläutern.
Nikolaus Müller-Schöll (Bochum/Gießen)
Mitsprechende Erfahrung - Heiner Müllers Schauspieler(theorie)
Nach einem Seitenblick auf Heiner Müllers in Interview-Äußerungen und Briefen entwickelte Theorie des Schauspielens möchte ich untersuchen, welche Auffassung der Rolle des Schauspielers sich in seinen Regiearbeiten manifestiert. Dabei ist, wie mir scheint, von zwei auffälligen Widersprüchen auszugehen:
1. Müller kritisierte einerseits immer wieder die real existierende gegenwärtige Schauspielkunst mit starken Worten, arbeitete andererseits aber in seinen Inszenierungen nicht etwa wie Joseph Szeiler mit Laien oder wie Pina Bausch mit Tänzern, sondern vielmehr mit Schauspielern - und dabei beinahe durchweg mit sehr namhaften Schauspielern, ja Stars wie Marianne Hoppe, Erwin Geschonneck, Martin Wuttke, Ekkehard Schall, Hermann Beyer oder Eva Mattes. Wieso dieses Festhalten an ‚professionellen Schauspielern’? Ist es bloßer Tribut an die Häuser, in denen Müller inszeniert, oder ist damit ein spezifisches Erkenntnis-Interesse verbunden?
2. Müller stand wie Foucault oder Barthes der Ideologie des großen Invididuums und Subjekts kritisch gegenüber, ja er fühlte sich durch Arbeiten wie diejenigen Foucaults bestätigt und erleichtert. Er teilte, folgt man seinen Äußerungen, das Mißtrauen gegenüber den Ordnungsfaktoren des Autors, Protagonisten, Helden und Stars. Gleichwohl ist sein Blick auf Autoren, Schauspieler, historische Figuren und Zeitgenossen geprägt vom Interesse an deren Lebensgeschichte(n), die Müller niemals getrennt von den „Werken“ oder „Arbeiten“ betrachtet. Beide Widersprüche lassen sich vielleicht ausgehend von der Hypothese erklären (wenn auch nicht unbedingt auflösen), daß ein wichtiger Subtext von Müllers Bühnenarbeiten die in sie mitgebrachten unterschiedlichen Erfahrungen der Schauspieler (und aller anderen Beteiligten) sind, also dasjenige, was der Schauspieler weder spielt, noch auszustellen sucht, was aber im Verlauf des Aufeinandertreffens unterschiedlicher Schauspielersprachen am je einzelnen Schauspieler als dessen irreduzibler Idiolekt und vielleicht als die ihn (de-)konstituierende Differance hervortritt, wobei der Idiolekt dabei in Inszenierungen wie „Duell Traktor Fatzer“ oder „Quartett“ nicht nur ein von der je singulären Lebensgeschichte gezeichneter ist, sondern darüber hinaus auch auf unterschiedliche gesellschaftliche Hintergründe, politische Anschauungen und historische Zusammenhänge verweist, die vermittelt über die Schauspieler in die Theaterarbeit einzufließen vermögen.
Dieses Arbeiten mit Schauspielern möchte ich in zwei Kontexte stellen:
In den einer theoretisch fundierten Praxis der Dokufiktion mit Darstellern, die Geschichte in Worten, aber auch in ihrem Gestus und mit ihrem Antlitz bezeugen, bei Claude Lanzmann (Shoah) sowie in einer heutigen Performance-Praxis mit ihrem Interesse an den sogenannten „Experten aus der Wirklichkeit“ (Rimini Protokoll, Hofmann & Lindholm).
Zu fragen wäre nach der gemeinsamen Suche nach dem Realen im Spiel, oder, wie ich es mit einem vorläufigen Begriff bezeichnen will, nach der mitsprechenden Erfahrung.
Rainer Nägele (New Haven / Paris)
Anstatt eines 'abstract': Heiner Müller: laut und leise
Das Genre 'abstract' will mir nicht gelingen. Das hat mit einer Art des Schreibens zu tun, dessen Substanz nicht in Thesen besteht, die man abstrahieren könnte, sondern in der Verfahrensweise, in der dies und das sich ereignen kann. Mit der hat es auch das jetzt Geschriebene und zu Schreibende zu tun: Schichten in Heiner Müllers Texten, die jenseits oder diesseits der Information leise in der stillen Schrift, laut im gesprochenen Text sich mitteilen: Metrik, Rhythmus, Vers und Prosa, Zäsur.
Christian Schulte (Potsdam)
„Die Befreiung des Ausdrucks vom Zwang des Sinns“ - Befragung einer dialogischen Form
„Zu lernen vor allem ist Einverständnis, das muß man lernen, einverstanden sein mit Entwicklungen, mit Prozessen“ – diese Brecht-Paraphrase Heiner Müllers charakterisiert zugleich die Haltung, die seinen TV-Gesprächen mit Alexander Kluge zugrunde liegt. Wer sich in den Jahren vor dem Tod des Dramatikers in Kluges Ausdrucksreservate einschaltete, konnte zu später Stunde Dialoge verfolgen, die so noch nie im Fernsehen zu sehen und zu hören waren: der eine als Fragensteller fast durchgängig im Off, der andere mit Zigarre und Whisky groß im Bild – dieses Dispositiv bildete den Rahmen für assoziative Flanerien, bei denen Müllers Texte oft die Vorlage lieferten für spekulative Digressionen, die im konventionellen Fernsehen keine redaktionelle Kontrolle passiert hätten. Man sah zwei Autoren bei der Arbeit zu, bei der Entstehung ihrer Gedanken beim Reden, einer Begegnung vor laufender Kamera, mit der einzigen Absprache: „Jeder konzentriert sich auf den anderen.“
Die Gespräche, die auf diese Weise entstanden, konfigurieren Räume, werden zu Schauplätzen von Szenen, in denen die Stimmen der Vergangenheit in immer neuen Konstellationen in die Gegenwart hineinsprechen. Es ist diese mediale, selbstvergessene, trans-subjektive Redeform, in der sich Geschichte – Gegenwart, Zukunft und Vergangenheit – als zusammenhängender Erfahrungshorizont zu erkennen gibt. Ein solches Sprechen kennt nicht länger die Unterscheidung zwischen primärem Text und sekundärem Kommentar; wenn unter dem dialektischen Blick der Sprechenden alle geschichtlichen Ausdrucksformen zueinander relational sind, dann gewinnt es sein Spezifisches gerade dadurch, dass es beide Optionen in der Schwebe hält.
Daher stellt sich die Frage: Wer bzw. was spricht hier überhaupt? Und wer mit wem? Kluge mit Müller? Müller mit Shakespeare? Nero mit Stalin? .... Und was autorisiert dieses Sprechen? Diesen Gestus, der weniger Bedeutungen transportieren will, als vielmehr dem Text seinen Materialwert zurückerstatten will?
Christine Standfest (Wien)
"Sei Perser!" Ergreifendes Sprechen in drei Inszenierungen von "Die Perser" von Aischylos in der Bearbeitung von Heiner Müller mit einer Sprechpartitur von Claudia Bosse
Was ist der Sprechakt als Vorgang im Theater heute? Welche Haltungen kommunizieren im Feld des prä- und postdramatischen? Was oder wo investieren sich das Subjektive, das Persönliche, die Motivlagen der Akteurinnen und Akteure, ohne die jedes Sprechen leer bleibt? Was ist daran politisch - jenseits von Rollenspiel und Figur in einer theatralen Situation, die sich, anders auch als manche zeitgenössischen Performance-Modelle, konfrontiert mit der Autorschaft eines fremden, anderen, oder gar fernen Texts? Kurz – was IST „Sprechen“ eines Texts in einer Situation, die sich seines Materials und seiner „Architektur“ als Widerstand bedient, um eine Situation herzustellen, die geteilt und „öffentlich“ ist, die sich hineingibt in ein Feld ästhetischer Erfahrung, in dem Habitus und Geschichte(n), Körper und Sprachen aufeinanderprallen, sich potenzieren und wechselseitig beobachten?
Anhand von drei Inzenierungen von 'Die Perser' im Rahmen der theatralen Serie tragödienproduzenten von theatercombinat und in der Regie von Claudia Bosse möchte ich den Akt des Ergreifens von Sprache und seine Konsequenzen für Spieltechniken, Sprechweisen, Umsetzungsformate und Partizipationsmodelle diskutieren.
tragödienproduzenten (2006 – 2009 mit Texten von Aischylos, Shakespeare, Racine und Jelinek) entwickelt Theater- und Öffentlichkeitsmodelle in Auseinandersetzung mit einem Schnitt durch die Geschichte und die Theatergeschichte. „Die Perser“ von Aischylos fanden 2006 in Wien mit einem „Tragödienchor der 12“ (Wienerinnen) und drei Protagonisten von theatercombinat (Gerald Singer, Christine Standfest, Doris Uhlich) in einem 200 m langen Leeraum der U – Bahn, genau unter Wiens Haupteinkaufsstrasse, statt. Für einen black-box Theaterraum in Genf (2006, Koproduktion mit dem Théâtre du Grütli) und die große Bühne des Staatstheaters Braunschweig (2008, Gemeinschaftsproduktion Festival Theaterformen und Staatstheater Braunschweig) wurde ein anderes Öffentlichkeits- und Partizipationsmodell entwickelt. Angelehnt an die Dithyramben-Chöre in Athen wurde zum „Chor der 500“ aufgerufen: „Sei Perser“ Demokratie erproben im Chor der 500“. In Genf bestand dieser Chor am Ende aus ca. 180 GenferInnen, in Braunschweig proben zum Zeitpunkt Ende April knapp 400 ChoreutInnen aus der Braunschweiger Bevölkerung über drei Monate zweimal wöchentlich, später mehr, bis zu den Aufführungen auf der Bühne des Staatstheaters Braunschweig, auf der sich Chor, ProtagonistInnen und ZuschauerInnen in einer geteilten Raumchoreografie befinden.Individuum - Menge – Masse: Theater als körperlich-sprachliche Kommunikation; als Produktion von (städtischer) Öffentlichkeit, als „ästhetische Erziehung“ zwischen Partizipation und Rezeption.
Jenseits des Stoffes wirkt die Übertragung von Müller/Witzmann in freien Vers als gestisches Erfahrungsfeld für Sprache und Sprechen, Denken und Kommunikation. Die dafür entwickelte Sprechpartitur ist praktisches Modell für „phonetisches Denken“ (Claudia Bosse) und die Synchronisierung der ChoreutInnen in einer chorischen – d.h. kollektiven – Situation und zugleich der Versuch, mittels Rhythmisierung und Musikalisierung die in der Übertragung „unterschlagenen“ oder politisch und historisch different motivierten Projektionsvorgänge und Ideologisierungen des Texts von Aischylos (vgl. z.b. Edith Halls Vorwort zur ihrer Übetragung ins Englische), als gestischen Widerstand in die theatrale Praxis einzuziehen.
Dabei geht es um nichts weniger als um die Frage nach einer theatralen Ethik im leibhaft-habituellen Moment der „Bühnenpräsenz“, vor und in der Sprache, und um eine Untersuchung der Medialitäten von Performance und zeitgenössischem Theater: mitten im Subjektiven aber jenseits der Figur.
Helene Varopoulou (Berlin / Athen)
Müller übersetzen
Die Übersetzung von Müllers "Philoktet" ins Neugriechische (für eine Aufführung im kleinen Theater von Epidaurus in diesem Jahr) bringt eine Reihe von Erfahrungen und grundsätzlichen Fragen mit sich, die mit der Sprechbarkeit und mit dem mehrfachen Übersetzungsprozess zu tun haben, der sich in dieser Aufführung manifestiert: Müllers "Übersetzung" des Stoffs aus der altgriechischen Tragödie des Sophokles, die Übersetzung ins Neugriechische, die Übersetzung des Textes in die Praxis des Theaters.
Aus diesem Arbeitsprozess wird der Beitrag einige exemplaische Erfahrungen erörtern.