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FATZER
Ein deutsch-italienisches Materiallager auf der Basis von Bertolt Brechts Fragment

Teatro Stabile, Turin: 6. bis 12. Februar 2012

Als "Fatzer"-Fragment geistert es durch die Theatergeschichte. Zwischen 1927 und 1930 arbeitete Bertolt Brecht an einem Theaterstück, das unvollendet blieb. Aus dem erfolgreichen Theaterautoren des "Baal" oder der "Dreigroschenoper" wurde in diesem mehrjährigen Schreib- und Selbstvergewisserungsprozess der Autor der "Lehrstücke". Der Ausgangspunkt des "Fatzer" Fragments: Vier Männer, unter ihnen Fatzer, desertieren aus dem 1. Weltkrieg. Sie verstecken sich, warten auf die Revolution, die nicht kommt und beginnen, sich selbst zu zerstören. Auf mehr als 500 Seiten hat Bertolt Brecht sich am Spannungsfeld zwischen Masse und Individuum, zwischen Kollektiv und dem Individualisten, zwischen Krieg und Normalität abgearbeitet.

In Kooperation mit dem Teatro Stabile di Torino schlägt die Volksbühne am Rosa-Luxemburg-Platz das Materiallager FATZER über den "rohen Blöcken" von Brechts Jahrhundertfragment auf. "das ganze, da ja unmöglich / einfach zerschmeißen / für experiment - ohne realität / zur selbstverständigung" no­tiert Brecht angesichts seines Stückentwurfs Ende der 20er Jahre. Dabei geht es den Kooperationspartnern um die "Erprobung" des "Fatzer" Fragments ebenso wie um die Frage, wohin die "Lehrstücke" angesichts unserer Gegenwart der politischen Abstürze heute führen "Wer lehrt die Lehrenden" und natürlich um Bertolt Brecht selbst und wie wir der Tradierung und Traditionalisierung entkommen.


Kill your Darlings! Streets of Berladelphia
von René Pollesch

Premiere 18.1.2012, 19.30 Uhr, Volksbühne am Rosa-Luxemburg-Platz Berlin, Großes Haus

Nach der Szene, die Sie gerade gesehen haben, gab es eine Szene, die wirklich einzigartig war, aber wir mussten sie streichen. Und jetzt an dieser Stelle gab es das schönste, das überzeugendste, was wir überhaupt in der Lage sind herzustellen, aber es hätte zu sehr herausgeragt, und den Abend vielleicht aus dem Gleichgewicht gebracht. Und es heißt ja nicht ohne Grund: Kill your Darlings. --- Warum kann ich mit Individualität nichts anfangen? Die Liebesgeschichte schlechthin ist die einzige, die zu teilen ist. Jede individuelle Liebesgeschichte ist nur eine Meinung, und die ist nicht zu teilen, die ist nur in "eine unter vielen" geteilt und zerstreut. Da ist die Einzigartigkeit schon austauschbar. "Die gewaltsame Unmenschlichkeit des Kapitals breitet nichts anderes aus, als die Simultanität des Singulären, gesetzt jedoch als die indifferente und austauschbare Partikularität der Einheit der Produktion, und des Pluralen, gesetzt jedoch als das Netz der Warenzirkulation" (Jean-Luc Nancy). Unter Individuen ist nichts zu teilen, außer eine Vielfalt an Geschichten. Und natürlich dürften wir unmöglich von der Liebe schlechthin reden. Das ist den Individuen dann zuviel Einzigartigkeit! Und es stellt diese unwahre Gemeinschaft bloß. Es ist ja so, daß es ein großes Geschrei gibt, wenn wir sagen, meine und deine Liebe ist die Liebe schlechthin.

Regie: René Pollesch, Mit Fabian Hinrichs
Bühne und Kostüme: Bert Neumann, Licht: Frank Novak, Torsten König, Dramaturgie: Henning Nass


Weitere Aufführungen 31.1.2012, 19.30 Uhr
Aufführungen in Turin: 10., 11.2.2012, 20.45 Uhr, Teatro Stabile di Torino, Cavallerizza Reale und 12.2.2012, 15.30 Uhr


Fatzer Fragment / Getting lost faster
von Bertolt Brecht, Regie: Fabrizio Arcuri

Der Regisseur Fabrizio Arcuri (Teatro Stabile di Torino) beschäftigt sich in "Fatzer Fragment­/Getting lost faster" mit dem Ringen um und dem Verlust von Macht und dem War­ten auf die Veränderbarkeit politischer Zustände im Italien der Gegenwart. Neben den Medien- und Installationskünstlern der Gruppe Portage sind auf der Bühne auch die Musiker der italienischen Band Marlene Kuntz zu erleben.


«Sich mit dem Fatzer von Bertolt Brecht auseinanderzusetzen "schreibt Fabrizio Arcuri, bedeutet, eine regelrechte Schreibsporthalle zu betreten: voller Streichungen, Neuformulierungen, in der Schwebe gebliebenen Fragmenten, wobei sich die klare und deutliche Empfindung einstellt, das Ganze nicht mehr in den Griff zu bekommen. [...] Dennoch erweist sich eben diese Schwierigkeit, dieses entwaffnende Gefühl des Scheiterns, mit jeder neuen Lektüre als das vielleicht konkreteste und grundlegendste Element des gesamten Werkes. Im Fatzer werden die Widersprüche nicht explizit gemacht, da ist kein tugendhaftes Verhalten, das seiner Nemesis entgegensteht, sondern eine Aufeinanderfolge von Sichtweisen, deren alleiniges Resultat die Katastrophe ist: Egal welcher Art sie ist, die bezogene Position führt notwendig zum Scheitern. [...] Heute, aus über achtzigjähriger Distanz, stellt sich der historische Hintergrund nahezu unverändert dar und, hat man erst einmal die obligatorischen Prämissen gezogen, wird schnell klar, worin die Kraft und die Aktualität des Textes von Bertolt Brecht sowie die Wichtigkeit seiner Wiederentdeckung und Aufführung bestehen. Von den jugendlichen Besetzern der Wall Street bis hin zu den gewalttätigen Protesten des Schwarzen Blocks, von den Zivilbewegungen bis zu den separatistischen Extremismen, von den Demonstranten von Seattle bis zu den atemlosen Versuchen der Banken, eine kapitalistische Restauration herbeizuführen, ist es offenkundig, daß wir uns nunmehr mit neuen und anhaltenden Niederlagen konfrontiert sehen. Die Wahrheit ist, wie im Fatzer klar ausgesprochen wird, daß der "Mensch aufhören muß zu sein". Das klingt nach Apokalypse, doch in Wirklichkeit handelt es sich bloß um eine Hoffnung. Jene, nicht noch ein weiteres Mal zu scheitern.»

Für sein Theaterstück benutzt der in Italien weithin bekannte Regisseur Fabrizio Arcuri - unterstützt durch die Dramaturginnen Milena Massalongo und Magdalena Barile - unter anderem die von Heiner Müller in den 1970er Jahren aus dem vielschichtigen Textmaterial Brechts komponierte Fassung "Der Untergang des Egoisten Fatzer". Heiner Müller hatte Brechts Fragment einen "Jahrhunderttext" genannt, "das Beste, was in diesem Jahrhundert geschrieben wurde für die Bühne und das Beste von Brecht".

Mit Matteo Angius, Francesca Mazza, Beppe Minelli, Paolo Musio, Mariano Pirrello, Werner Waas/ Musik: Kompositionen und Live-Ausführung von Luca Bergia und Davide Arneodo (Marlene Kuntz)/ Szenische Installationen und performative Objekte: Alessandra Lappano e Enrico Gaido (Portage)/ Regie: Fabrizio Arcuri/ Bühne: Gianni Murru/ Beleuchtung: Diego Labonia/ Video: Lorenzo Letizia/ Kostüme und Regieassistenz: Marta Montevecchi

Aufführungen in Turin: 6., 7., 8. Februar 2012, Teatro Stabile di Torino, Cavallerizza Reale



Informationen, Tickets, Aktualisierungen unter http://www.teatrostabiletorino.it/index.php?action=view&table=catalog&ID=29

© Ute Schendel[1] Margit Broich[2][3] Heidi Paris/Merve Verlag[4]

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