»Ich bin meiner Zeit voraus«. Sinnlichkeit und Utopie bei Heiner Müller.

RWTH Aachen University
16./18. November 2015

Ausschreibung

In der UMSIEDLERIN beantwortet Fondrak die Zumutung Flints: »Die Bedürfnisse kriegen wir später« mit dem Satz: »Ich bin meiner Zeit voraus, ich hab sie schon«. Er berührt damit eine Grundfrage Müllers, nämlich die Frage nach der Freiheit und Entfaltungsmöglichkeit des Individuums. Sie kehrt wieder, auch in der Lehrstückreihe PHILOKTET, DER HORATIER und MAUSER, wo Philoktet, die Schwester des Horatiers und A/B nacheinander ihre Individualität geltend zu machen versuchen gegen die Forderung, ein bestimmtes gesellschaftliches Bewusstsein zu übernehmen. Sie weigern sich, in einer Funktion aufzugehen. Offenbar gilt für sie, was Siegfried in der UMSIEDLERIN sagt: »Der Mensch ist ein Ensemble, und als Mensch der ein Ensemble ist, hab ich ein Mitglied das kein Bewußtsein hat. Es ist spontan springt von der Linie ab, versteift sich auf den eignen Vorteil«.
Wir sehen, dass Müller den Trieb, das individuelle Verlangen, seiner Differenz zum gesellschaftlichen Bewusstsein zum Trotz wiederholt positiv besetzt. In der UMSIEDLERIN wird die Erfüllung des individuellen Verlangens, jede Freude, zum »Vorgeschmack vom Kommunismus«; in MAUSER wird A zum Feind der Revolution und liquidiert, weil er den Menschen nicht mehr als den erkennt, der leben und keine Maschine sein will, sondern in forcierter Ausübung seines Auftrags als »etwas, in das man hineinschießt«, und in der HAMLETMASCHINE imaginiert Müller das Drama des Hamletdarstellers, wenn es noch stattfinden würde, als einen Spaziergang, in dessen Verlauf sich Gruppen bilden, »aus denen Redner aufsteigen«. Er überblendet das Bild vom spontanen Abspringen von der Linie also mit dem vom gleichsam biologischen Aufstand, für den in seiner Autobiographie der 17. Juli 1953 Pate steht. Immerhin erinnert er sich später: »Dann bin ich in Richtung Alexanderplatz gelaufen, und da wurde es dann schon turbulent, da brannten Kioske, da war schon zu sehen, was Brecht ganz gut beschrieben hat: Es bildeten sich Klumpen von Leuten, und es stiegen Redner daraus hervor. Ein fast biologischer Vorgang.« Vergleichbare Szenen finden wir in weiteren Texten, z.B. in ZEMENT. Umgekehrt schwindet das Emanzipatorische des Triebs bei Müller, wo »ein bestimmter ökonomischer Sättigungsgrad überschritten wird«. Dort schlägt ökonomische Entwicklung in »intellektuelle Unterentwicklung« um. Es droht die Schande, »auf dieser Welt glücklich zu sein«, sich von ihrer Schönheit blenden zu lassen, anstatt für ihre Verbesserung zu streiten.
Für Müller war die Kunst der Ort, an dem die Utopie für bessere Zeiten aufgehoben wird; das Theater das Instrument, neue Phantasieräume zu öffnen und seiner Zeit vorauszueilen. Wenn wir Fondraks Bemerkung, er sei seiner Zeit voraus, ernst nehmen, welcher utopische Gehalt lässt sich der positiven Besetzung von Individualität und individuellem Genussverlangen dann entnehmen? Bedeutet das Schöne und das Verlangen nach dem Schönen tatsächlich »das mögliche Ende der Schrecken«? Wird Utopie anders denn als Dystopie aufgehoben? Gibt es die Möglichkeit, individuelle Erfüllung mit der Durchsetzung einer Idee zu versöhnen? Wenn ja, welche Gestalt besitzt dann der neue Mensch, der uns im Phantasieraum des Theaters entgegentritt? Und wenn nein, welche sprachlichen und/oder theatralischen Mittel im Werk Müllers weisen noch über das Dystopische hinaus, arbeiten der Abtötung der Phantasie, des Verlangens nach Schönheit, als Reservat der Utopie entgegen?

Tagungsinformationen
Das Institut für Germanistische und Allgemeine Literaturwissenschaft der RWTH Aachen kooperiert mit dem Theater Aachen und der Internationalen Heiner Müller Gesellschaft, um Heiner Müller anlässlich seines 20. Todestags zu würdigen. Die Kooperation steht unter der Schirmherrschaft von Susanne Schwier, der Kulturdezernentin der Stadt Aachen und soll mehrere Veranstaltungen umfassen, darunter eine Inszenierung am Theater Aachen. Aktuelle Informationen finden Sie unter: www.heinermueller2015.com

Exposés samt Kurzbiografien, max. 5.000 Zeichen (inkl. Leerzeichen) werden bis zum 30. April 2015 erbeten an Dr. Hans Kruschwitz (h.kruschwitz@germlit.rwth-aachen.de).

© Neues Deutschland[1] Christopher Martin[2]

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