Nachruf
Zum Tode Heinrich Mohrs
Am 22. Mai 2017 starb Prof. em. Dr. Heinrich Mohr im Alter von 78 Jahren in Osnabrück, wo er von 1974 bis 2003 an der Universität gelehrt hatte. Er hinterlässt seine Frau Eva-Maria und mehrere Kinder sowie Enkelkinder.
Heinrich Mohr war ein außergewöhnlicher Germanist und Hochschullehrer, der mit Themen und Kollegen nie taktisch umging, der Literaturwissenschaft nie zur Profilierung, sondern zur Auseinandersetzung mit Gesellschaft und Geschichte, zum besseren Verständnis der Menschen und aus einer tiefen Neugier heraus heraus betrieb.
Vielleicht interessierte er sich deshalb früh für die Literatur der DDR, denn bereits während des Studiums (Deutsch, Geschichte, Politik, Philosophie), das er teilweise in Berlin absolvierte und 1966 mit der Promotion abschloss, nahm er „Anstoß daran, dass die Germanisten in den Universitäten der Bundesrepublik weder die Literatur aus der DDR noch die Literaturwissenschaft in der DDR zur Kenntnis nahmen“, und er fragte sich, „was sie eigentlich bewog, so ganz freiwillig ihre eigene Mauer zu bauen“ .
Mohr publizierte wichtige Artikel über ostdeutsche Literatur von Hermann Kant bis Christa Wolf – und immer wieder auch bedeutende Beiträge über Heiner Müller. 1978 war er Mitbegründer und erster Vorsitzender des „Arbeitskreises Literatur und Germanistik in der DDR“ und gab bis 1990, gemeinsam mit Gerhard Klussmann, sieben Bände des Jahrbuchs zur Literatur in der DDR heraus.
All dies blieb auch dem Ministerium für Staatsicherheit nicht verborgen, das ihm Einreiseverbot in die DDR erteilen ließ, weil es allen Ernstes unterstellte, er wolle „Nachwuchsautoren der DDR gezielt in der BRD aufzubauen, um diese Autoren damit in Konflikt mit der Kulturpolitik der Partei und Regierung zu bringen... Der M. ist seinem Wesen nach ein Organisator der PID.“ Als Heinrich Mohr diesen Vermerk von 1980 nach dem Zusammenbruch der DDR in seiner Stasiakte fand, kommentierte er ungläubig: „Man weiß, dass ich fast unfähig bin, meinen Schreibtisch aufzuräumen. Und nun wurde ich erkannt als ‚Organisator der politisch-ideologischen Diversion‘.“
Als sein Arbeitskreis im vereinten Deutschland umbenannt wurde in „Internationaler Arbeitskreis Literatur und Politik in Deutschland“, wählten die Mitglieder den alten ersten auch zum ersten neuen Vorsitzenden. Aber Heinrich Mohr war nicht nur einer der renommiertesten Kenner der DDR-Literatur und des Werkes von Heiner Müller, sondern auch engagiert in weiteren Forschungsgebieten wie etwa der Exilliteratur. Unter anderem initiierte er an der Universität Osnabrück die Verleihung von Ehrendoktorwürden an den NS-Widerstandskämpfer Heinz Brandt (1984) und an den deutsch-jüdischen Emigranten und bedeutenden Exilforscher Ernst Loewy (1989).
Ich selbst schickte dem mir damals unbekannten Prof. Mohr 2008 meine Dissertation über Heiner Müller mit der Anfrage, ob er sich vorstellen könne, dazu ein Zweitgutachten zu erstellen. Er rief mich gleich am nächsten Tag an und sagte, er habe das dritte Kapitel gelesen und sei elektrisiert, das heißt, er stehe gern zur Verfügung. Noch heute bin ich froh darüber, dass ich über das gemeinsame Interesse an Heiner Müller Heinrich Mohr kennenlernen und über die letzten Jahre mit ihm im Kontakt stehen durfte. Selten habe ich einen derart eloquenten, geistreichen und dabei stets von Grund auf herzlichen Menschen im Wissenschaftsbetrieb getroffen, der noch immer vor Esprit, Diskussionsfreude und Begeisterung für Literatur und Theater sprühte. Gewiss bin ich nicht die Einzige, die Heinrich Mohr viel verdankt und von seinem Tod erschüttert ist. Ein Germanist von seinem Kaliber, seiner moralischen Integrität und seinem augenzwinkernden Humanismus ist auch für die deutsche Literaturwissenschaft insgesamt ein großer Verlust.
Janine Ludwig
im Namen der Internationalen Heiner-Müller-Gesellschaft